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Kolumne Zehn Thesen zum Brexit-Deal

Großbritannien und die EU gehen ab 2021 getrennte Wege
Großbritannien und die EU gehen ab 2021 getrennte Wege
© dpa
Am morgigen Mittwoch soll das britische Parlament über den Brexit-Deal abstimmen, die Märkte feiern das Abkommen bereits. Doch was bedeutet der finale Brexit langfristig? 10 Thesen - von Berenberg-Chefökonom und Capital-Kolumnist Holger Schmieding

These #1

Trotz des Abkommens bleibt der Brexit ein Verlustgeschäft für alle Beteiligten. Großbritannien verliert den freien Zugang zu seinem Top-Absatzmarkt. Die Europäische Union verliert ein wichtiges Mitglied. Als Folge des britischen Ausscheidens schrumpft der Binnenmarkt der EU um 16%. Dies schwächt die Position Brüssels in internationalen Verhandlungen. Für andere Staaten ist der Anreiz künftig etwas geringer, der EU entgegenzukommen, um dafür einen besseren Zugang zum EU-Markt zu erhalten.

These #2

Das am Heiligabend abgeschlossenen Abkommen ist weit besser als eine Scheidung ohne Deal. Für beide Seiten wäre es eine politische Blamage gewesen, wenn sie es viereinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum nicht geschafft hätten, sich auf einen Vertrag über ihre künftigen Beziehungen zu einigen. Großbritannien wäre ein Rückfall auf die Minimal-Regeln der Welthandelsorganisation teuer zu stehen gekommen. Zum Risiko einer erneuten Rezession Anfang 2021 hätte sich ein langfristig geringeres Trendwachstum von nur 1,5% pro Jahr statt etwa 1,7% mit Abkommen und rund 2% vor dem Brexit-Beschluss gesellt.

These #3

Für die EU spielt der Vertrag wirtschaftlich keine große Rolle. Ohne Abkommen hätte die EU zwar zunächst darunter gelitten, dass ihre Unternehmen den bevorzugten Zugang zum britischen Markt verloren hätten. Dies hätte einige Lieferketten beeinträchtigt. Dem hätte auf Dauer jedoch eine ausgeprägtere Umlenkung von Handels- und Investitionsströmen sowie von Fachkräften von der britischen Insel auf den europäischen Kontinent gegenüber gestanden. Für die EU zählt vor allem, dass der Vertrag die Beziehungen zu einem auch politisch wichtigen Nachbarn nun auf eine neue geordnete Grundlage stellt.

These #4

Das Abkommen ist ein Kompromiss, der beiden Seiten Einiges abverlangt hat. Aber erwartungsgemäß hat sich die fünfeinhalbmal größere EU in den Kernpunkten des Abkommens stärker durchgesetzt. Dies zeigt sich beim Vergleich zwischen Gütern und Dienstleistungen. Der Handel mit Gütern wird nicht durch Zölle und mengenmäßige Obergrenzen belastet. Das nützt beiden Seiten. Aber es kommt der EU noch mehr entgegen als Großbritannien, da EU-Unternehmen bei Waren oftmals einen Wettbewerbsvorteil haben. Dies hat sich 2019 beispielsweise darin ausgedrückt, dass die EU im Warenhandel mit Großbritannien einen Überschuss von 110 Mrd. Euro erzielte. Dagegen wird der Handel mit Dienstleistungen kaum geregelt. Das schadet insbesondere der britischen Seite, deren Unternehmen im Finanzsektor und bei anderen Dienstleistungen stark sind. 2019 erzielte Großbritannien im Austausch von Dienstleistungen mit der EU einen Überschuss von 20 Mrd. Euro. De facto kann die EU den Marktzugang britischer Dienstleister künftig fast nach Gutdünken einschränken. Im Finanzsektor entscheidet die EU darüber, ob sie die britischen Regulierungen bestimmter Finanzdienstleistungen als „gleichwertig“ einstuft und damit den EU Markt für diese Produkte öffnet oder nicht.

These #5

Das Abkommen zerstreut weitgehend die größte Sorge der EU, nämlich dass das britische Beispiel Schule machen und weitere Länder versucht sein könnten, ebenfalls einen Austritt aus der EU anzustreben. Die viereinhalb chaotischen Jahre, die Großbritannien seit dem Referendum vom 23. Juni 2016 durchlebt hat, und das magere Verhandlungsergebnis dürfte potenzielle Nachahmer auf absehbare Zeit abschrecken.

These #6

Der Vertrag ist nicht das letzte Wort über die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Seiten des Ärmelkanals. Dafür dürfte stattdessen die politische Entwicklung in Großbritannien entscheidend sein. Unter den derzeit regierenden Tories besteht eher Gefahr der weiteren Abgrenzung. Wenn Großbritannien seine „Freiheit“ nutzt und erheblich von EU-Standards abweicht, kann die EU Strafzölle verhängen. Dies könnte im schlimmsten Fall eine Eskalationsspirale in Gang setzen. Ihrerseits dürfte die EU ihren Ermessensspielraum bei Finanz- und anderen Dienstleistungen auch dazu nutzen, um unter dem Deckmäntelchen des „fairen“ Wettbewerbs etwas Protektionismus auf Kosten britischer Anbieter zu betreiben. Unter einer späteren Labour-Regierung in London wäre dagegen eine weit engere Anbindung an die EU wieder möglich. Bei Regulierungen wäre Labour eher bereit, sich an der insgesamt eher sozialdemokratisch strukturierten EU zu orientieren. Allerdings dürfte auch Labour keine Rückkehr in die EU anstreben. Das Thema EU hat das Land so gespalten und ins politische Chaos getrieben, dass sich die britische Seite eine erneute Diskussion darüber für mindestens eine Generation nicht mehr zumuten dürfte.

These #7

Das Abkommen besiegelt eine bemerkenswerte Entwicklung in Großbritannien. In einigen wichtigen Bereichen entfernt das Land sich immer weiter von klassisch liberalen Idealen der freien Marktwirtschaft. Stattdessen neigt auch London heute zu einer interventionistischen Industriepolitik. Ein wesentlicher Knackpunkt der Verhandlungen war die britische Forderung, eigene Unternehmen künftig stärker subventionieren zu dürfen als die Regeln der EU es erlauben. Nach der Osterweiterung der EU 2004 hatte Großbritannien sich anders als alle nahezu alle anderen EU-Mitgliedern ohne zehnjährige Übergangsfrist für Zuwanderer aus den neuen Mitgliedsländern geöffnet. Auch hier hat das Land sich erheblich gewandelt. Viele Briten haben unter anderem deshalb für den Brexit gestimmt, um diese Zuwanderung jetzt erheblich einschränken zu können.

These #8

Als Folge des Brexits ist der Ausblick für die britischen Staatsfinanzen prekärer als in den meisten Mitgliedsländern der EU. Mit dem britischen Trendwachstum leidet auch die britische Steuerkraft durch den Brexit. Zudem dürfte das Land seine Staatsausgaben zunächst erheblich ausweiten, um die Brexit-Schäden zu überdecken. Unter den großen Ländern Europas steuert derzeit nur Italien auf mehr Fiskalprobleme zu.

These #9

Das Abkommen vermindert die Wahrscheinlichkeit, dass Schottland sich abspaltet. Ohne einen Deal hätte sich die Empörung vieler Schotten, von englischen Brexiteer-Nationalisten aus der EU herauskatapultiert worden zu sein, wahrscheinlich so festgesetzt, dass Schottland in wenigen Jahren seinen Austritt aus dem Vereinigten Königreich erklärt und seinen Beitritt zur EU beantragt hätte. Dies ist zwar weiterhin möglich, aber weniger wahrscheinlich als bei einem ungeregelten Brexit.

These #10

Die Erfahrung der Brexit-Verhandlungen stärkt das Selbstbewusstsein der EU. Mehr als je zuvor hat die EU erlebt, dass sie ein Verhandlungsergebnis weitgehend in ihrem Sinne prägen kann, wenn sie zusammenhält und ihre wirtschaftliche Größe einsetzt. Diese Erfahrung stärkt auch die künftige deutsch-französische Zusammenarbeit, die auf absehbare Zeit der Motor der EU bleiben wird.

Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er schreibt hier regelmäßig über makroökonomische Themen. Weitere Kolumnen von Holger Schmieding finden Sie hier

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