Mit dem Insolvenzantrag erreicht der Bilanzskandal um den Dax-Konzern Wirecard eine neue Stufe. Wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung stellte das Unternehmen einen Antrag auf Einleitung eines Insolvenzverfahrens. Die Aktie des einstigen Börsenlieblings stürzte daraufhin endgültig ins Bodenlose.
Der dramatische Absturz des Zahlungsdienstleisters ist einzigartig in der deutschen Unternehmensgeschichte . Erst im September 2018 war Wirecard in den Dax aufgestiegen und hatte dort die traditionsreiche Commerzbank verdrängt. Doch mit dem Erfolg kamen auch erste Zweifel. Immer wieder schrieb vor allem die britische Wirtschaftszeitung „Financial Times“ über finanzielle Ungereimtheiten. Die FT-Berichte stehen am Anfang der Ereignisse, die schließlich zum Absturz des Unternehmens führten. Wir zeichnen den Weg nach.
Der Fall Wirecard – eine Chronologie
Wirecard: Chronologie eines Skandals

In einem Porträt über Wirecard und seinen Aufstieg in den Dax berichtet die britische „Financial Times“ über offene Fragen, die der Konzern aufkommen lasse. So sei Wirecard über den Kauf kleinerer Unternehmen expandiert, Analysten berichteten aber über Schwierigkeiten, Belege für diese Firmen zu finden. Die im Artikel zitierten Analysten von Citi und Barclays sehen keine Grundlage für Zweifel am Unternehmen, merken allerdings an, dass die Gründe für das Wachstum von Wirecard nicht leicht nachzuvollziehen seien.

Nach einem kritischen Bericht der „Financial Times“ bricht die Wirecard-Aktie zwischenzeitlich und mehr als 20 Prozent ein. Laut Recherchen der britischen Zeitung soll ein hochrangiger Manager im Singapur-Büro des Konzerns Verträge gefälscht und rückdatiert haben. Mittels der Verträge soll unrechtmäßig Geld zwischen mehreren Tochterfirmen verschoben worden sein. Die Informationen hatte ein Whistleblower in einer Präsentation offengelegt. Wirecard dementierte die Vorwürfe.

Die Finanzaufsicht Bafin kam Wirecard im Februar 2019 mit einem Leerverkaufsverbot zu Hilfe. Die Behörde sah den Konzern als Opfer einer „Shortattacke“

Zum zweiten Mal binnen einer Woche stürzt der Wirecard-Kurs ab, erneut wegen eines FT-Artikels. Der Zeitung zufolge hat die Kanzlei Rajah & Tann ernsthafte Verstöße und finanzielle Unstimmigkeiten in der Niederlassung in Singapur festgestellt. Die Ergebnisse der Untersuchung seien der Wirecard-Spitze schon am 8. Mai 2018 in einer Präsentation vorgelegt worden, schreibt die Zeitung. Wirecard dementiert die Vorwürfe und nennt die Berichterstattung „irreführend und diffamierend“. Drei Tage später erklärt der Konzern, Rajah & Tann habe in Singapur keinerlei Belege für ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten gefunden.

Wieder legt die „Financial Times“ nach. In einem weiteren Artikel schreibt die Zeitung, der für Asien zuständige Finanzchef habe sechs Mitarbeitern in Singapur gezeigt, wie man die eigenen Bücher mittels Zahlungskarusell manipulieren könne. So könne man die Behörden in Hongkong überzeugen, Wirecard eine Lizenz zu geben. Dieses System sei möglicherweise in der ganzen Region über Jahre hinweg betrieben worden, heißt es in dem Bericht.

Die Ereignisse überschlagen sich: Während Wirecard rechtliche Schritte gegen die „Financial Times“ und ihre Berichterstattung ankündigt, untersucht die Polizei in Singapur den dortigen Firmensitz. Wirecard teilt mit, man habe der Polizei Unterlagen übergeben und kooperiere mit den Ermittlern. Die Vorwürfe der FT würden jeder Grundlage entbehren, heißt es von Seiten des Konzerns.

Die Anwaltskanzlei Bronstein, Gewirt & Grossman reicht vor einem Bezirksgericht in Los Angeles eine Sammelklage gegen Wirecard auf Schadenersatz ein. Ihre Klienten sind Wirecard-Aktionäre und sehen sich von den missverständlichen Aussagen rund um den Konzern in die Irre geführt. Auch mehrere deutsche Anwaltskanzleien prüfen der „Süddeutschen Zeitung“ zufolge rechtliche Schritte gegen Wirecard.

Die Bafin verbietet sogenannte Leerverkäufe von Wirecard-Aktien bis zum 18. April. Damit untersagt die Finanzaufsicht zum ersten Mal in der Geschichte Leerverkäufe für eine einzelne Aktie. Demnach sind neue Netto-Leerverkaufspositionen in Wirecard-Aktien und die Erhöhung bestehender Netto-Leerverkaufspositionen vorübergehend nicht mehr erlaubt. Die Staatsanwaltschaft München I leitet außerdem ein Ermittlungsverfahren gegen einen FT-Journalisten „wegen Vergehens nach dem Wertpapierhandelgesetz“ ein.

Die Behörden in Singapur nehmen auch das Indien-Geschäft von Wirecard ins Visier. Wie das „Handelsblatt“ unter Berufung auf gerichtliche Dokumente berichtet, werde gegen mehrere Mitarbeiter und Gesellschaften des Konzerns ermittelt – unter anderem wegen Geldwäsche und Dokumentenfälschung. Dazu gehört auch das indisiche Unternehmen Hermes I Tickets der Great Indian Retail Group. Wirecard hatte die Gruppe 2015 gekauft.

Der FT liegen nach eigenen Angaben Unterlagen vor, nach denen leitende Wirecard-Angestellte insgesamt vier Transaktionen beaufsichtigt haben, die nun im Fokus der Ermittlungen in Sinagapur stünden, heißt es. Die Summe der Transaktionen belaufe sich auf 2 Mrd. Euro. Auch gegen den damaligen Vorstand Jan Marsalek erhebt die FT Vorwürfe.

Wirecard gibt die Ergebnisse der Untersuchung durch die Kanzlei Rajah & Tann bekannt. Die Kanzlei habe in ihrem Bericht „keine wesentlichen Auswirkungen auf die Abschlüsse der Wirecard Gruppe festgestellt“, heißt es in der Ad-hoc-Mittelung. Allerdings habe es möglicherweise Straftaten einzelner lokaler Mitarbeiter gegeben. Der Aktienkurs schießt daraufhin vorübergehend um 30 Prozent nach oben. Der vollständige Bericht wird nicht veröffentlicht.

Wegen der erheblichen Kursverluste reicht Wirecard gegen die FT und den Autor der Wirecard-kritischen Texte, Dan McCrum, Klage ein. Der Dax-Konzern will damit eine Unterlassung der Berichterstattung sowie eine Entschädigung der Aktionäre erreichen. Im Juli beauftragt die „Financial Times“ die Londoner Anwaltskanzlei RPC mit der Untersuchung der Anschuldigungen von Wirecard. Anfang Oktober sind die Ermittlungen abgeschlossen. RPC zufolge hätten sie keine Hinweise darauf erbracht, dass es Absprachen zwischen Reportern und Spekulanten in der Wirecard-Berichterstattung gegeben hätte.

Die FT reagiert auf die Klage von Wirecard mit einem weiteren Bericht. Der Dax-Konzern mache unerwartet viel Umsatz über externe Bezahldienste. Bei der Überprüfung einiger Partnerfirmen sei man auf Ungereimtheiten gestoßen. So habe das Dax-Unternehmen Anfang 2018 Umsätze von Geschäften mit Partnerunternehmen in Höhe von 931 Mio. Euro eingeplant. Das entspreche der Hälfte des für das Gesamtjahr anvisierten Erlöses. Wirecard bezeichnet den Artikel als „falsch und irreführend“.

Die Bafin schaltet sich in den Streit zwischen Wirecard und der FT ein und erstattet gegen rund ein Dutzend Personen Anzeige bei der Staatsanwaltschaft München. Laut ihrer Recherchen sieht die Finanzaufsicht einen Zusammenhang zwischen der Berichterstattung gegen Wirecard und den Kursschwankungen der Konzern-Aktie. Die FT weist den Vorwurf der Marktmanipulation zurück.

Wirecard erhebt schwere Vorwürfe gegen die „Financial Times“. Laut einem Insider soll das Unternehmen den Verdacht bestätigt haben, dass Aktien-Spekulanten mit der Zeitung zusammenarbeiten. Das Unternehmen habe Beweise an die Staatsanwaltschaft München I übergeben. Dazu gehöre eine Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen zwei Investoren, in dem ein kritischer FT-Artikel thematisiert worden sei. Daraufhin habe der eine Investor geraten, auf den Kursverfall der Wirecard-Aktie zu spekulieren. Der Konzern verlangt von der Zeitung, keine Artikel mehr über Wirecard zu publizeren. Die FT wehrt sich gegen die Vorwürfe.

Die FT nimmt in einem neuen Artikel das Partnerunternehmens Al Alam Solutions in Visier. Das Unternehmen mit Sitz in Dubai habe in 2016 die Hälfte des Gewinns von Wirecard ausgemacht, heißt es. Interne Dokumente würden belegen, dass Transaktionen über Al Alam erfunden worden seien. Das deute auf den Versuch hin „Umsätze und Gewinne von Wirecard betrügerisch aufzublähen“, schreibt das Blatt. Auch in Irland könnten die Umsätze und Gewinne zu hoch ausgewiesen worden sein, heißt es weiter. Wirecard nennt den Artikel „verleumderisch“.

Im Auftrag des Wirecard-Aufsichtsrates versuchten Bilanzexperten und Forensiker der Prüffirma KPMG über Monate vergeblich, die Existenz von Milliardenguthaben des Konzerns zu belegen

Ein neuer Artikel der „Financial Times“ kritisiert die Berechnung liquider Mittel bei Wirecard. Demnach rechne der Dax-Konzern zu seinen Bar-Reserven auch Gelder auf Treuhandkonten. Die „Financial Times“ sieht Belege für ihre Vorwürfe unter anderem in dem hohen Cashflow des Dax-Konzerns. Wirecard dementiert die Vorwürfe und betont, die Cashpositionen entsprechen dem Rechnungslegungsstandard IFRS. Ein weiterer Artikel am 11. Dezember berichtet, der Konzern habe einen lybischen Geheimdienstmitarbeiter auf Wirecard-Investoren in London angesetzt. Er solle aufdecken, ob diese versuchten, den Wirecard-Kurs zu manipulieren. Wirecard weist die Vorwürfe zurück.

Die KPMG veröffentlicht ihren Sonderprüfbericht. Bereits mehrfach war die Veröffentlichung verschoben worden. Das Fazit ist verhalten. Der Bericht gibt an, die Umsätze aus dem Drittpartnergeschäft weder bestätigen noch widerlegen zu können. Außerdem weißt die KPMG unter anderem auf verspätete und teils gar nicht gelieferte Dokumente hin, die die eigene Untersuchung gehemmt haben. Wirecard-CEO Markus Braun betont dagegen KPMG habe „ganz klar keinen Beleg“ für bestehende Vorwürfe gefunden. Die Bafin analysiert nach eigenen Angaben den KPMG-Bericht und ob es im Vorfeld irreführende Angaben von Wirecard gegeben habe.

Wirecard kündigt an, den Vorstand umzubauen. CEO Markus Braun soll Kompetenzen abgeben, ein Compliance-Ressort soll eingerichtet werden. Es soll die Einhaltung von Gesetzen und Regeln sicherstellen. Leiter des neuen Ressorts wird James Freis, er soll am 1. Juli seine Arbeit aufnehmen. Außerdem gibt es zwei neue Posten im Vorstand: Ein neu eingerichtetes Vertriebsressort und den Chief Commercial Officer.

Die Veröffentlichung der Konzern-Bilanz für 2019 wird erneut verschoben. Wirtschaftsprüfer EY habe noch nicht alle Prüfungen abgeschlossen, lautet die Begründung. Mit wesentlichen Änderungen der im Februar veröffentlichten Eckdaten sei nicht zu rechnen, heißt es von Seiten des Konzerns weiter. Man erwarte ein uneingeschränktes Testat.

Wirecard teilt mit, dass der Firmensitz in Aschheim von der Staatsanwaltschaft München durchsucht worden sei. Anlass für den Vorgang sei der Verdacht, Verantwortliche des Konzerns hätten durch Ad-hoc-Mitteilungen im März und April „irreführende Signal für den Börsenpreis“ der Aktien gegeben. Laut Wirecard richten sich die Ermittlungen nicht gegen den Konzern, sondern gegen die vier Vorstandsmitglieder. In den zwei Pflichtmitteilungen am 12. März und 22. April – und damit deutlich vor Veröffentlichung des KMPG-Sonderberichts – hatte der Zahlungsdienstleister erklärt, die Wirtschaftsprüfer hätten nichts zu beanstanden.

Im Jahr der Wirecard-Pleite ist EY zum führenden Regierungsberater unter den Big-Four-Konzernen aufgestiegen

Wirecard-CEO Markus Braun gibt seinen sofortigen Rücktritt bekannt. Die vorübergehende Nachfolge tritt Jonathan Freis an. Braun stand seit 2002 an der Spitze des Unternehmens.

Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München: Die spektakuläre Pleite des Dax-Konzerns vernichtete Milliardenwerte