Es sind Begriffe in meinen Wortschatz gedrungen, die ich vor wenigen Wochen zwar irgendwie verstanden, aber in ihrer Bedeutung gar nicht hätte begriffen hätte:
- Herdenimmunität
- Durchseuchung
- Corona-Partys
- Selbstquarantäne
- Kontaktsperre
- Shutdown
- Social Distancing.
Es sind Wörter, die den Schrecken und Stillstand dieser Tage umreißen. Ein anderes Wort ist auch noch in meinem Kopf hochgekommen, das dort in einer besonderen, unguten Bedeutung seit geraumer Zeit friedlich schlummerte: alternativlos.
Wir leben nun wieder in angeblich alternativlosen Zeiten. Wir kennen das noch aus der Finanz- und Euro-Krise, die Rettung der Banken, die Rettung Griechenlands, all das war damals „alternativlos“. Das Fass will ich gar nicht wieder aufmachen. Es geht um das Hier und Jetzt: Ist der Shutdown, wie viele nun sagen, auch alternativlos?
Nach allem was ich höre und lese, zumindest für die Anfangszeit einer Seuche: ja. Und deshalb sitzen die meisten auch brav zu Hause und haben im Schockverfahren einen Teil ihrer Freiheitsrechte aufgegeben. Ein tückisches Virus hat es gebraucht, um in Europa innerhalb von wenigen Tagen eine halbe Diktatur auf Zeit zu errichten. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen hat allerdings Verständnis für den Shutdown. Noch.
Die Szenarien klingen hart und unmenschlich
Seit einigen Tagen mehren sich die Stimmen, die fordern, dass wir entschlossener, offener und schneller gerade die Alternativen diskutieren , damit wir einen Plan B, eine Exitstrategie, spätestens nach Ostern haben. Stichwort: Wir sollten es wie Südkorea machen – testen, testen, testen plus Tracking über Smartphone. Den Shutdown in Teilen aufheben und die Risikogruppen in Quarantäne lassen, wo sie zwar versorgt werden, aber in Isolation bleiben. Erste Pläne sickern dazu durch , dass wir die Testkapazität auf einige Hundertausend pro Tag hochfahren und uns erstmals über Smartphones überwachen lassen. Aber selbst das wird wohl nicht reichen, wir werden über mehrere Millionen Tests reden müssen.
All diese Szenarien – sowohl für die Gesundheit als auch die Wirtschaft – werden durchgerechnet und modelliert, und es klingt hart und manchmal unmenschlich. Der Shutdown kostet Deutschland zwischen 25 und 50 Mrd. Euro pro Woche, hat das Ifo-Institut errechnet .
In den USA haben Wissenschaftler der Northwestern University das Ganze noch härter und konkreter kalkuliert: Pro Leben, das gerettet wird, kostet es 2 Mio. Dollar an wirtschaftlicher Aktivität. Darf man so rechnen? Und darf das überhaupt eine Frage sein? Finanzminister Olaf Scholz hat das als „zynische Erwägung“ bezeichnet, und unsere Bundeskanzlerin uns am Wochenende noch mal um Geduld gebeten.
Health or Wealth? Kein Gegensatz
Ein scheinbarer Gegensatz wird hier ins Feld geführt: Geld oder Leben, Mensch gegen Wirtschaft. In den USA und Großbritannien wird die Debatte unter dem Schlagwort „Lives versus Livelihoods“ oder „Health or wealth“ geführt. Der Tenor: Ein paar Manager und Unternehmer, allen voran Donald Trump, wollen jetzt möglichst schnell wieder die Wirtschaft hochfahren, damit sie weiter in Ruhe Geld verdienen können.
Ich finde es wichtig festzuhalten, dass es diesen Gegensatz in der Schärfe nicht gibt. Mensch gegen Wirtschaft. Wer ist denn „die Wirtschaft“? Das sind doch wir alle. All die Kellner, Köche, Barkeeper, Ladenbesitzer, Reisebüromitarbeiter, Eventmanager, Spielwarenladenbesitzer, Fabrikarbeiter, Ingenieure, Unternehmer, Start-up-Gründer und so weiter, die nun in Quarantäne oder im Homeoffice sitzen und um ihre Existenz fürchten (Übrigens: Homeoffice ist in diesen Tagen ein recht elitärer Begriff geworden).
Und beim Thema Existenz sind wir doch beim Kern des Konflikts: Wir müssen nicht nur Leben schützen und retten, sondern auch Existenzen. Sehr viele Leute haben nicht in erster Linie Angst sich anzustecken, sondern bangen um ihre Lebensgrundlage. Auch solche Sorgen und ein sozialer Absturz haben Folgen für die Gesundheit. Und es ist nicht unmenschlich oder verwerflich, dieses Dilemma und diese Güterabwägung zu thematisieren.
Es heißt, die Folgen einer zu frühen Aufhebung des Shutdowns seien unkalkulierbar. Auch hier schwirren wieder Zahlen und Modellrechnungen um unsere Ohren, etwa die des Epidemiologen Neil Ferguson vom Imperial College in London ( die Studie finden Sie hier ) – eine andere, nicht-wissenschaftliche Betrachtung kursiert im Netz unter dem klangvollen Namen „The Hammer and the Dance “.
Ich bin kein Epidemiologe, deswegen maße ich es mir nicht an, „Pi mal Daumen“ zu erklären, was nun richtig sei. Wir müssen aber dringend das ganze Bild sehen. Die ersten Wochen führten die Virologen das Wort, richtigerweise. Aber es kann nicht sein, dass wir auf Dauer indirekt vom Robert-Koch-Institut und der Charité regiert werden.
Die zweite Infektionswelle
Denn die Folgen für unsere Volkswirtschaft sind ebenso unkalkulierbar. Längst gibt es doch eine zweite Infektionswelle – in den zahllosen Läden, Geschäften, Restaurants und kleinen und mittleren Unternehmen. Hier tun wir so, als ob wir mit dreistelligen Milliardenbeträgen diese Ansteckungsgefahr unter Kontrolle bringen. Alle bekommen Geld, alle Arbeitsplätze werden gerettet. Das ist der Tenor der Bundesregierung. Sie hat im Eiltempo ein gigantisches Hilfspaket geschnürt, das verdient Achtung und Anerkennung. Ich fürchte aber, dass sie auch hier die Kontrolle spätestens nach Ostern verlieren wird.
Wie gesagt, es geht hier nicht um Geld, sondern um Existenzen, um das ganze Bild. Es geht um Leben und Lebensgrundlagen. Und um den falschen Eindruck, dass unser Handeln alternativlos ist. Die Alternativen gibt es ja bereits, sie heißen Südkorea, Taiwan, Japan oder Schweden. Keiner hat eine Ideallösung, den goldenen Weg. ( Einen Report finden Sie hier ). Aber wir sollten die kommenden Tage und Wochen gut nutzen, bis in jeden Winkel Alternativen zu durchzudenken.
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