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Interview "Wir brauchen dringend ein Zuwanderungsgesetz"

Flüchtling in einer Schreinerei
Flüchtling in einer Schreinerei
© dpa
„Die Flüchtlinge lösen unser Fachkräfteproblem nicht.“ BA-Vorstand Raimund Becker fordert im Capital-Interview ein Zuwanderungsgesetz, um den Zuzug qualifizierter Fachkräfte zu steuern.

Capital: Herr Becker, vor zwei Jahren kamen fast eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Viele Unternehmen hofften auf neue Fachkräfte und ein zweites Wirtschaftswunder, andere warnten vor Überforderung, Deutschlands Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme könnten so viele Flüchtlinge nicht integrieren. Wo stehen wir heute aus Sicht des Arbeitsvermittlers?

Becker: Wir sind ungefähr da, wo wir gedacht haben. Vielleicht sogar ein klein bisschen besser. Die internationalen Erfahrungen zeigen, dass im ersten Jahr nach der Einreise zehn Prozent der Geflüchteten Arbeit finden, nach fünf Jahren fünfzig Prozent und sechzig bis 65 Prozent nach zehn bis zwölf Jahren. Wir sind zuversichtlich, dass wir dieses Integrationsziel auch mit den Menschen schaffen können, die jetzt zu uns gekommen sind. Wir lernen ja dazu und verbessern unsere Programme.

Sie haben sehr früh die Erwartungen gebremst.

Uns war früh klar, dass die Flüchtlinge keine Fachkräfte von heute oder morgen sein würden, sondern von übermorgen. Mit der großen Flüchtlingswelle sind ja auch Menschen zu uns gekommen, die nicht lesen oder schreiben können, die nur ein paar Jahre eine Schule besucht haben, die keine Berufsausbildung haben. Also Menschen, denen wir Zeit geben müssen, zu lernen, sich zu qualifizieren. Und in die wir erst mal eine Menge investieren müssen.

Das BAMF hatte Riesenprobleme, den Flüchtlingsansturm 2015 in Griff zu kriegen. Es kamen damals ja 150.000/160.000 Menschen im Monat. Die BA hatte mehr Zeit sich vorzubereiten.

Wir haben schon 2013/14 mit ersten Pilotprojekten angefangen. Ich war damals in Schweden und habe mir Projekte angeschaut. Als die ersten Flüchtlinge dann tatsächlich kamen, waren wir als Organisation schon etwas vorbereitet. Wir haben in kurzer Zeit die BA besser ausgerüstet und konnten bis heute rund 2800 Vermittler und Flucht-Experten bei der BA und den Jobcentern einstellen. Unsere einheimischen Kunden haben wir natürlich in gleichem Umfang wie bisher betreut und beraten, das ist mir immer ganz wichtig, das zu betonen – wir haben ja deshalb unsere anderen Programme z.B. für Langzeitarbeitslose nicht zurückgefahren. Und dann hat es natürlich eine Weile gedauert, bevor die ersten bei uns im Jobcenter aufgeschlagen sind.

Von welcher Größenordnung reden wir überhaupt?

Von den 1,2 Millionen Flüchtlingen, die 2015 und 2016 nach Deutschland kamen, haben wir rund 490.000 im Kontakt mit Arbeitsagentur oder Jobcenter. Rund 208.000 davon sind arbeitslos gemeldet, einer größerer Teil – über 250.000 Menschen - befindet sich in Qualifizierungslehrgängen oder Integrationskursen. Das ist gut verkraftbar angesichts eines Arbeitsmarktes in blendender Verfassung.

Das Maß aller Dinge ist aber ja der erste Arbeitsmarkt, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf Dauer.

Auch da kommen wir langsam voran. Im Moment schaffen rund 1000 bis 1200 pro Woche den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt. Insgesamt waren im Juni 2017 hier rund 157.000 Menschen aus „nichteuropäischen Asylherkunftsländern“ beschäftigt. Rund 32.200 Flüchtlinge konnten im vergangenen Jahr in einen regulären sozialversicherungspflichtigen Job integriert werden, hinzu kamen noch 56.000 Minijobber. Fast jeder fünfte ist bei der Zeitarbeit untergekommen, gefolgt von wirtschaftsnahen Dienstleistungen, das kann Reinigung sein, Lager, Logistik. Viele sind auch im Gastgewerbe.

Mit anderen Worten – alles Helfertätigkeiten.

Das ist keine Überraschung. Das Sprachniveau ist einfach noch nicht vorhanden, der Nachweis über Qualifikationen fehlt oft. Zum Teil gibt es auch einfach keine Unterlagen, so dass auch keine Anerkennung laufen kann. Die tatsächlichen Kompetenzen festzustellen, ist ein großes Thema.

Wird sich daran denn noch etwas ändern?

Realistisch gesehen ist alleine die Arbeitsmarktintegration ein großer Erfolg. Und einmal Helfer heißt ja nicht immer Helfer. Wir können berufsbegleitend qualifizieren. Dafür haben wir Instrumente. Die sind erprobt. Die Jungen sind motiviert, lernen die Sprache relativ schnell, aber auch die brauchen 5, 6 Jahre bis sie eine Fachkraft werden. Die müssen schulisch was nachholen, die Sprache besser lernen. Aber nicht alle werden wir qualifizieren können. Ein Teil wird Helfer bleiben, andere bleiben länger arbeitslos oder als Aufstocker im HartzIV-Bezug. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir diese Menschen noch oft sehen, dass wir die auch immer wieder nachqualifizieren müssen, dass die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe mittelfristig hoch bleibt, gemessen an anderen Migrantengruppen.

Im vergangenen Jahr haben 3000 Flüchtlinge eine Ausbildung angefangen, das klingt nach verdammt wenig. Zieht die Wirtschaft nicht richtig mit?

Es gibt ein großes Engagement der Arbeitgeber für die Flüchtlinge, aber jeder auf seine Weise. Die großen Konzerne haben Restriktionen, vor allem weil sie etablierte, sehr differenziert entwickelte Personalentwicklungs- und Auswahlsysteme haben. Warum sollten die auf einmal wegen der Flüchtlinge alles über den Haufen werfen, also den Flüchtling, der auf Rang 726 steht auf Rang 1 nehmen. Die haben einfach genug gute Bewerber. Die bieten schon Praktika an, auch mal Ausbildungen, aber im Grund brauchen die qualifiziertere Leute.

Die kleineren und mittleren Unternehmen sind wesentlich flexibler, die haben diese Einstellungsprozesse nicht. Die können sich auch mehr kümmern, da spielen die Flüchtlinge dann mal mit Fußball, die soziale Integration klappt leichter. Wir wissen, dass gesellschaftliche Integration ein elementarer Faktor ist, der mit der Arbeitsmarktintegration einhergeht. Wo wir relativ gute Erfahrung machen, ist mit Job-Speed-Dating. Wenn die Arbeitgeber den Mensch mal sehen, mit dem geredet haben, dann geben die dem einen Chance.

Als Hürde nennen viele Unternehmer immer noch Rechtsunsicherheit.

Ja, es gibt nach wie vor die Problematik mit dem Aufenthaltsstatus, ob jemand anerkannt ist, geduldet, mit guter oder geringer Bleiberechtsperspektive. Wer hier in der Vergangenheit als Arbeitgeber mit einer Abschiebung negative Erfahrung gemacht hat, scheut nun oft das Risiko. Dabei ist der rechtliche Rahmen besser geworden. Nach dem neuen Integrationsgesetz kann niemand abgeschoben werden, der in der Ausbildung steckt, das ist die sogenannte 3+2-Regelung. Und wer im Anschluss in seinem Beruf arbeitet findet, kann auch bleiben, wenn er sich sonst nichts zu schulden kommen lässt. Es gibt also klare Perspektiven. Das Problem ist, dass die Bundesländer die Regelung unterschiedlich streng handhaben.

Wissen Sie schon wie viele Flüchtling-Azubis in diesem Jahr starten?

Fast 20.000 der Asylbewerber haben die Bewerbereigenschaft, bei ihnen könnte es funktionieren. Das ist doch schon was.

Wollen Sie denn gar nicht an unseren eigenen Strukturen rütteln, etwa eine Duale Ausbildung light anbieten und die Prüfungen an den Berufsschulen vereinfachen, so dass die Flüchtlinge bessere Chancen haben ?

Das Berufsbildungssystem an die Flüchtlinge anpassen – das macht gar keinen Sinn. Außerdem wollen wir doch auch, dass die mehr können, als das was sie auf dem Bau, im Gastgewerbe on the job lernen. An der Qualität dürfen wir keine Abstriche machen. Wenn da am Schluss ein Elektriker draus werden soll, der muss dann schon Starkstrom und Wechselstrom unterscheiden können. Bei den Berufsschulen d´accord, da gibt es auch Deutsche, die Mühe haben, die Fragen zu verstehen, das ist tatsächlich zum Teil etwas gestelzt.

Was ist das größte Problem nach wie vor?

Die Sprache. Ein Großteil der Flüchtlinge geht in den Integrationskurs. Das Ziel ist hier das Erreichen des B1-Sprachniveaus. Teilweise brauchen die Menschen aber Spezialkurse mit Alphabetisierungs- und Zweitschriftlernrmodulen. Die können zwar gut arabisch, aber haben keine lateinischen Schriftkenntnisse. Solche Kurse gibt es zwar im städtischen Umfeld, aber auf dem Land ist es schwierig.

Die Leute warten zum Teil immer noch Monate auf einen Platz im Kurs, verlieren Zeit und sind frustriert.

Das ist viel besser geworden. Anfang 2016 haben 200.000 Plätze gefehlt, da war das ein Riesenthema, und da haben die Leute sehr lange gewartet. Nun versuchen wird, dass jeder Flüchtling innerhalb von 4-6 Wochen immer einen Anschluss kriegt. Es stimmt ja, das schlimmste ist, wenn die zu lange nichts tun.

Sind wir zu ungeduldig?

Wie wir Deutschen so sind, jetzt soll das alles ganz schnell gehen, stellt euch nicht so an, wenn wir 8 Uhr sagen, dann ist das 8 Uhr und nicht ein Signal für irgendwann morgens. Diese Menschen kommen in eine völlig andere Welt rein, da gibt es Reibereien. Die Arbeitswelt funktioniert ganz anders, alles ist durchgetaktet, im Dreischichtbetrieb, das ist in anderen Ländern ja so nicht immer bekannt, diese Art des Arbeitens.

Gibt es eigentlich große Unterschiede zwischen den Bundesländern wie die Integration läuft?

Sie funktioniert da am besten, wo Vollbeschäftigung herrscht. Was manche Bundesländer leider zu lax umsetzen, ist die Wohnsitzauflage. Derzeit ziehen vermehrt Flüchtlinge von Bayern nach NRW, obwohl das verboten ist. Wenn viele Flüchtlinge dahin gehen, wo ihre Landsleute sind, erschwert das die Integration. Sie bleiben dann oft in ihrer kulturellen Gruppe so stark verwurzelt, dass zu wenig Kontakt zu unserer Gesellschaft besteht. Eine bundeseinheitliche Lösung bei der Wohnsitzauflage wäre für uns einfacher gewesen.

Was ist eigentlich, wenn noch eine zweite Flüchtlingswelle zu uns heranrollt?

Entwarnung können wir nicht geben. Die Situation in der Türkei und z.B auf Lampedusa ist labil. Unsere Strukturen stehen, in den Ankunftszentren, in den Jobcentern, in den Agenturen. Wir wären damit nicht überfordert. Auch in den Ankunftszentren haben wir jetzt qualifiziertes Personal, das wir kurzfristig einsetzen könnten. Aber die Hysterie der Anfangszeit, als 1,2 Mio. Flüchtlinge kamen, die ist vorbei. Wir müssen uns auch nur vor Augen führen, dass wir es schon mit großen Zahlen an Flüchtlingen vom Balkan und aus Russland zu tun hatten. Das waren mehrere Millionen Menschen. Das haben wir auch geschafft.

Wer löst denn jetzt eigentlich unser Fachkräfteproblem?

Wir brauchen dringend ein Zuwanderungsgesetz, mit dem wir steuern können, wer von qualifizierten Arbeitskräften zu uns kommen kann. Die Flüchtlinge lösen das Problem ja nicht. Im Jahr gehen ja 300.000 Menschen raus. Nach den Wahlen muss da endlich mal was passieren.

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