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Konferenz in Berlin Wiederaufbauchef der Ukraine tritt zurück

Mustafa Najjem (2. v. l.) auf der Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine 2023
Mustafa Najjem (2. v. l.) auf der Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine 2023
© empics / Jordan Pettitt / Picture Alliance
Mustafa Najjem gilt als Ikone der proeuropäischen Bewegung in der Ukraine und einer der integersten Politiker des Landes: Nun hat der Leiter der Wiederaufbauagentur sein Amt aufgegeben – kurz vor Beginn der Ukraine-Konferenz in Berlin

Es ist ein Knall gleich zu Beginn: Am Vorabend der Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine in Berlin ist der Chef der für diesen Bereich zuständigen ukrainischen Agentur, Mustafa Najjem, zurückgetreten. „Ich habe diese Entscheidung eigenständig getroffen”, schrieb Najjem auf X. „Der Grund waren systemische Widerstände, die mich daran hindern, meinen Pflichten effektiv nachzukommen. Ich danke allen für die Unterstützung und die Arbeit!“

Für die ukrainische Führung unter Präsident Wolodimir Selenskij ist der Rücktritt Najjems ein unangenehmes Signal zu einem extrem ungünstigen Zeitpunkt. Der gebürtige Afghane ist in der Ukraine eine Legende und gilt als Symbol für Integrität. 

Najjem hatte früher als Korrespondent für die Zeitung Ukrainska Prawda zahlreiche Skandale aufgedeckt und sich vehement gegen die Zensur unter dem damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch eingesetzt. Mit einem Facebook-Post im November 2013 trug er maßgeblich dazu bei, dass es auf dem Maidan in Kiew zu Massenprotesten gegen Janukowitsch und dessen antieuropäischen Kurs kam. Während der nachfolgenden Ausrichtung des Landes nach Westen war Najjem eine Zeit lang auch Parlamentsabgeordneter.

Kritik an Geberländern

Wenige Tage vor seinem Rücktritt gab Najjem Capital ein Interview, in dem er die Probleme beim Wiederaufbau schilderte, der bereits während des laufenden Krieges stattfindet. „Es geht darum zu tun, was wir jetzt tun können, um den Menschen zu helfen, ihr Leben fortzusetzen“, sagte Najjem, dessen Bruder an der Front kämpft. „Wir befinden uns in der Überlebensphase. Wie müssen Bedingungen herstellen, die es uns erlauben, den Krieg zu führen und zu gewinnen.“

In der Region des großen Kachowka-Staudamms, der mutmaßlich von russischen Einheiten zerstört worden war, sorgte Najjems Agentur dafür, dass den von den Überflutungen betroffenen Bewohnern in kurzer Zeit geholfen wurde. „Wir haben 1,5 Millionen Menschen Zugang zu Trinkwasser verschafft“, sagte Najjem. „Das haben wir in Rekordzeit hinbekommen.“ Allerdings sprach der Agenturchef auch von „Politik, Eigeninteressen und Korruption“, die seiner Arbeit immer wieder im Wege stünden. Vor einigen Wochen hatte Najjem öffentlich gemacht, dass ein ukrainischer Parlamentsabegordneter versucht habe, ihn zu bestechen.

Streit mit Behörden

Die Gründe für den Rücktritt legte Najjem in einem längeren Facebook-Post dar: „Seit November vorigen Jahres sah sich das Team der Agentur mit ständigem Widerstand und der Schaffung künstlicher Hindernisse konfrontiert“, schrieb er. Unter anderem seien Gelder unter nicht nachvollziehbaren Bedingungen nicht weitergereicht worden. Auch hätten sich die Behörden in mehreren Fällen geweigert, Baumaßnahmen zu genehmigen. „All dies hat Folgen, über die ich bereits mehrfach offiziell berichtet habe. Verspätete Zahlungen für die Arbeit von Auftragnehmern untergraben das Vertrauen in den Staat; Verzögerungen bei der Finanzierung verlangsamen die Bauarbeiten und bringen sie in einigen Gebieten sogar ganz zum Erliegen, was zu einem Vertrauensverlust auf dem Markt, bei den lokalen Behörden und den Bürgern führt“, so Najjem.

Kritik übte der Agenturchef im Gespräch mit Capital jedoch auch an den Geberländern und internationalen Hilfsinstitutionen wie der Europäischen Investitionsbank oder der Weltbank. „Man kann sich gegenüber der Ukraine nicht so verhalten, wie man sich gegenüber einem europäischen Land verhält, weil sie noch nicht so weit ist und sich immer noch im Krieg befindet“, sagte er. „Man kann nicht so langsam und bürokratisch sein wie in diesen Ländern. Sie haben Zeit und sie haben den Luxus, alles planen zu können. Das haben wir nicht.“

Mangel an Personal

Ein Problem sieht Najjem vor allem in den Pflichten zu Transparenz und Rechenschaft, die aus seiner Sicht die Prozesse verlangsamen und nicht für ein Land im Kriegszustand eignen: „Das ist immer noch so langsam wie vor dem Krieg, diese Verfahren werden nicht geändert.“ Hinzu komme, dass es seiner Agentur an den Menschen fehle, um den laufenden Wiederaufbau zu planen und umzusetzen. „Wir haben definitiv einen Mangel an Arbeitskräften. Viele Leute, die jetzt an der Front sind, könnten eigentlich im Bausektor eingesetzt werden.“

Was die Zukunft der Ukraine angeht, so sieht Najjem sein Land an einem Scheideweg zwischen einer Entwicklung in Richtung Afghanistan oder in Richtung Südkorea. Es hänge in entscheidendem Maße von der EU und den USA ab, welchen Weg das Land gehen könne. „Wir haben für unser Land geplant, aber es ist offenkundig, dass wir nicht alleine überleben werden“, sagte er. Die Bevölkerung der Ukraine sei jedoch bereit für einen Wandel. „Die neue Generation wird reifer sein, und die Probleme des Landes werden viel schneller behoben werden können. Wir werden mehr Erfahrung und viel mehr Potenzial haben.“

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