
Anja Förster ist Autorin von „Hört auf zu arbeiten“ und Vortragsrednerin bei internationalen Wirtschaftsveranstaltungen
Kailash Satyarthi gab mit 26 Jahren seinen Beruf als Elektroingenieur auf, um sich ganz dem Kampf gegen Kinderarbeit zu widmen. Sein Ziel: Eine Welt ohne Kinderarbeit! Natürlich wurde er als Träumer belächelt. Doch heute hat Satyarthi mit seinem Team allein in Indien mehr als 80.000 Kinder aus Sklaverei und Schuldknechtschaft befreit – oft unter lebensgefährlichen Bedingungen. Dafür wurde Kailash Satyarthi in diesem Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Elisabeth Holmes brach mit 19 ihr Studium in Stanford ab und bastelte im Studentenwohnheim an neuartigen Laborgeräten – mit einem ganz bestimmten Ziel: Bluttests nicht etwa nur zu optimieren, sondern komplett zu revolutionieren. Ihre Idee: Bluttests schmerzfrei, schnell und kostengünstig durchführen und so für jeden Menschen auf der Welt verfügbar machen. Keiner der Platzhirsche nahm sie ernst. Natürlich nicht. Doch ein Hormontest, der früher 2000 Dollar kostete, kann heute dank Holmes für gerade mal 30 Dollar angeboten werden. Heute, nur elf Jahre später, ist ihr Unternehmen 9 Mrd. Dollar schwer. Elisabeth Holmes ist die jüngste Self-Made-Milliardärin der Welt.
Die Biografien von Satyarthi und Holmes könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch eine Sache eint die beiden: Sie steckten ihre Ziele extrem hoch: Eine Welt ohne Kinderarbeit! Bluttests für jeden! Und sie betrachteten diese Extremziele nicht etwa als Utopie, sondern als eine zu erreichende neue Realität. Genau das ist die zwingende Voraussetzung für derart außergewöhnliche Leistungen.
Dumme Frage, dumme Antwort
Die Geschichte der Menschheit strotzt nur so vor Beweisen, dass einzelne Menschen bahnbrechende Veränderungen bewirken können. Die Grenzen dessen, was möglich ist, sind nie dort, wo Sie sie auf den ersten Blick vermuten würden. Schon Michelangelo wusste: „Die größere Gefahr für die meisten von uns besteht nicht darin, ein Ziel hoch gesteckt und verfehlt zu haben, sondern es zu niedrig gesteckt und erreicht zu haben.“
Michelangelo hatte Recht: Lauwarme, halbgare, kompromisshafte, unentschlossene Ziele haben nicht die Kraft, Menschen über sich hinauswachsen zu lassen. Der britische Biologe und Nobelpreisträger Sir Peter Medawar hat das so formuliert: „Auf uninteressante oder dumme Fragen erhält man uninteressante oder dumme Antworten.“
Was im Umkehrschluss bedeutet: Menschen, die Spuren hinterlassen statt nur jede Menge Staub aufzuwirbeln, suchen gültige Antworten auf extreme und wirklich bedeutsame Fragen. Ihre Daseinsberechtigung ergibt sich ein gutes Stück weit daraus, dass sie ihren Markt umkrempeln, etwas völlig Überraschendes hervorbringen oder ein Übel aus der Welt schaffen. Menschen, die ihre ganze Leidenschaft dafür einsetzen, außergewöhnliche Probleme zu lösen, schaffen das Potenzial für außergewöhnliche Leistungen.
Mittelmaß ist lausig
Das gilt für den Einzelnen genauso wie für Teams, Abteilungen, ja ganze Organisationen. Deshalb arbeiten intelligente Organisationen mit Zielen, die den Menschen mehr abverlangen, als sie bisher für möglich halten. Und nein! Dabei geht es keinesfalls darum, noch das letzte bisschen Energie aus den Mitarbeitern herauszuquetschen wie aus einer alten Zahnpastatube. Es steckt eine andere Logik dahinter: Laue Ziele und kleine, bedächtige Schritte führen geradewegs ins Mittelmaß. Und Mittelmaß ist lausig.
Kein Individuum und keine Organisation – egal, wo auf der Welt – übertrifft die eigenen Erwartungen. Das ist keine Esoterik, sondern Empirie. Noch nie hat jemand etwas Außergewöhnliches erreicht, wenn er es sich nicht einmal hat vorstellen können.
Und damit wir uns richtig verstehen: Es geht hier nicht um Propaganda für unrealistische Ziele. Tollkühne Ideen allein werden Sie nicht erfolgreich machen. Es geht immer auch um das Umsetzen: Die eigenen Ressourcen kritisch prüfen. Den Markt analysieren. Die richtigen Mitarbeiter ins Boot holen. Die Finanzierung sicherstellen. Prozesse managen – ohne all das geht natürlich gar nichts. Nur wer seine Hausaufgaben sorgfältig gemacht hat, sollte ambitionierte Visionen und Ziele verkünden. Aber wenn die Grundlagen solide und in der Realität verankert sind, wird die Vision für sich selbst sorgen. Allerdings nur dann!
Übrigens: Es ist nicht schlimm, ein hoch gestecktes Ziel nicht auf Anhieb zu erreichen. Wenn es wirklich ein großes Ziel ist, dann ist es sogar sehr wahrscheinlich, dass Sie dafür mehrere Anläufe brauchen werden. Nicht wenige Menschen verfolgen ihr persönliches Ziel ein ganzes Leben lang. Und das ist alles andere als dumm. Das ist sinnstiftend! Dumm dagegen ist, es gar nicht erst zu versuchen, sich kleine, leicht erreichbare Ziele zu stecken und sich so mit dem Mittelmaß schon von vorne herein zufrieden zu geben.