Der Verdacht ist allgegenwärtig: Stimmt die „offizielle“ Inflationsrate? Sind die Preise im Supermarkt, an der Tankstelle, in der Kneipe und vor allem auf dem Immobilienmarkt nicht viel stärker gestiegen als die jahrelang weit unter der EZB-Zielmarke von „nahe bei, aber unter zwei Prozent" Inflationszahlen von Statistischem Bundesamts und Eurostat?
In vielen Bereichen lässt sich zeigen, dass das die Wahrnehmung trügt, und der Unterschied zwischen gefühlter und tatsächlicher Inflation auf einer Täuschung beruht, etwa weil hohe Preissteigerungen besonders im Gedächtnis bleiben, sinkende oder stabile Preise dagegen weniger auffallen. Ein wichtiger Kostenblock, der für viele Deutsche und Europäer deutlich größer geworden ist in den vergangenen Jahren, wird bisher allerdings tatsächlich nicht in der maßgeblichen europäischen Inflationsstatistik, dem Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), berücksichtigt: die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum.
Immerhin knapp die Hälfte der Deutschen lebt im eigenen Haus oder der eigenen Wohnung. In vielen anderen europäischen Ländern sind es noch deutlich mehr. Während die Mieten und ihr Anstieg, den der andere Teil der Bevölkerung schultern muss, voll in die Inflationsberechnung eingeht, wird bisher nur ein kleiner Teil der Ausgaben für das Wohneigentum berücksichtigt, etwa für Instandhaltung und kleinere Reparaturen. Der große Kostenblock des Kaufpreises beziehungsweise der Abzahlung entsprechender Schulden fällt dagegen unter den Tisch.
Wie die Ökonomin Geraldine Dany-Knedlik und ihr Kollege Andrea Papadia vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in einer Studie nachweisen, weist der HVPI dadurch seit Jahren um durchschnittlich 0,3 Prozentpunkte zu geringe Inflationsraten aus. In Ländern mit hohen Wohneigentumsquoten wie Spanien ist der Effekt sogar noch größer. Dort läge die Inflation um durchschnittlich 0,9 Prozentpunkte höher, wenn die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum berücksichtigt würden.
Mit den in vielen Regionen stark gestiegen Immobilienpreisen ist die Verzerrung etwa für Deutschland zuletzt größer geworden. Betrug der Unterschied zwischen Berücksichtigung der Eigenheimkosten und der Nichtberücksichtigung in den Jahren 2011 bis 2014 nur 0,06 Prozentpunkte, so stieg diese Differenz für den Zeitraum von 2015 bis 2021 auf 0,35 Prozentpunkte.
Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Auch ohne diese Verzerrung hätte die Inflation in den vergangenen Jahren in Europa über lange Zeiten unterhalb des EZB-Ziels gelegen. Daher hätte eine Einbeziehung der Wohneigentumskosten die Geldpolitik wohl nicht grundsätzlich geändert. Da für die meisten Haushalte die Wohnkosten einen erheblichen Anteil ihrer Ausgaben darstellen, ist es den Forschern zufolge aber dennoch wichtig, dies auch im Inflationsmaß zu berücksichtigen. Wenn die gefühlte Preisentwicklung von den Verlautbarungen der Notenbank abweiche, könne dies zulasten ihrer Glaubwürdigkeit gehen. Das sieht auch die EZB inzwischen so und will in den kommenden Jahren den HVPI reformieren. Wie das geschehen soll, ist bislang allerdings offen.
Dass die Kosten fürs Wohnen im Eigentum in der europäischen Statistik, anders als beispielsweise in den USA, bislang ignorierte werden, hat methodische Gründe. Der Kauf von Wohneigentum ist zumindest zum Teil eine Investition, denn eine Immobile kann später weiterverkauft werden, häufig sogar mit Gewinn. Ein „Verbraucher“-Preisindex soll aber per Definition nur Verbrauchskosten messen. Die Statistiker müssen also den Aspekt vom konsumierenden Wohnen in einer Immobilie von dem Investitionsaspekt trennen.
Die Ideen, wie das gehen könnte, reichen von der Heranziehung von Vergleichsmieten über eine Befragung der Hausbesitzer nach einer Selbsteinschätzung bis hin zu aufwendigen Berechnungen aller mit der Wohnimmobilie zusammenhängenden Kosten abzüglich möglicher Wertsteigerungen. All diese Methoden haben allerdings ihre Nachteile. Unter anderem enthalten sie geschätzte oder auf rein theoretischen Berechnungen beruhende Elemente. Laut Gesetz dürfen in den HVPI nur tatsächlich gezahlte Preise einfließen.
Allerdings weist die Statistikbehörde Eurostat inzwischen einen eigenen Index für die Kosten selbstgenutzten Wohneigentums aus. Auch wenn dieser aufgrund der aktuellen Gesetzeslage nicht in den HVPI einfließen darf, will die EZB diesen künftig bei ihren geldpolitischen Entscheidungen berücksichtigen.
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf ntv.de