Capital: Herr Gern, die aktuelle weltweite Konjunkturprognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) fällt schlechter aus als noch vor drei Monaten. Was hat sich geändert?
KLAUS JÜRGEN GERN: Die Prognose ist immer noch besser als man im Oktober 2022 gedacht hatte, aber es stimmt: Gegenüber dem Januar hat sich die Einschätzung etwas verschlechtert. Drei Faktoren spielen da eine Rolle. Der erste sind die Zusammenbrüche von Banken. Auch wenn es nur einzelne Institute waren, hat das deutlich gemacht, dass das Finanzsystem unter Stress steht und die Geldpolitik langsam Wirkung zeigt. Die Bereitschaft der Banken zur Kreditvergabe nimmt ab. Der finanzielle Rahmen für wirtschaftliche Aktivitäten wird dadurch enger als noch im Januar vorausgesehen.
Zweitens geht man jetzt davon aus, dass die Zinsen länger hoch bleiben werden, weil die Inflation sich als hartnäckiger erweist als erhofft. Dass Inflationsraten nun sinken, ist praktisch ausschließlich auf die sinkenden Energiepreise zurückzuführen. Die Kernraten dagegen bleiben hoch. Der dritte Faktor ist China: Ökonomen haben hier nach den Corona-Problemen der vergangenen Jahre sehr großes Aufhol-Potenzial gesehen. Aber gerade für 2024 und die folgenden Jahre sind die Aussichten nun nach unten revidiert worden.
Gerade den hoch entwickelten Volkswirtschaften wie den USA und anderen G7-Staaten wird 2023 vom IWF ein besonders verlangsamtes Wachstum im Vergleich zum Vorjahr prognostiziert. Verglichen mit den USA steht Europa noch einmal schlechter da. Woran liegt das?
Im Jahr 2022 hatte insbesondere Europa noch ein Aufholwachstum aus der Corona-Krise. Im Winter 2021/22 gab es Lockdowns mit Produktions- und Konsumbeschränkungen. Als die sich im ersten Halbjahr 2022 auflösten, brachte das eine extra Konjunktur. Deswegen hatten wir 2022 auch trotz des Ukraine-Kriegs und der damit verbundenen Belastungen immer noch Wachstum in Europa. Dieser Aufholprozess geht irgendwann zu Ende und dann kommt es automatisch zu einer Wachstumsverlangsamung. Dieser Faktor spielt in Europa eine größere Rolle. Zudem ist die negative Wirkung des Kriegs in der Ukraine stärker als in den USA …
…weil diese indirekter betroffen sind?
Genau. Dadurch dass die USA ihr eigenes Gas haben, gab es von dieser Seite keine ungewöhnlichen Preisanstiege und keine Angst vor Energieknappheit. Die europäische Wirtschaft hat das hingegen vor allem in der zweiten Jahreshälfte 2022 stark belastet. Das schlägt sich auch in den Jahresdurchschnittszahlen für 2023 nieder. Dazu wird die bremsende Wirkung der Geldpolitik hier erst dieses Jahr richtig sichtbar werden, weil die EZB später mit Zinserhöhungen begonnen hat als die US-Notenbank.
Deutschland fällt bei den IWF-Prognosen ans untere Ende zurück, dieses Jahr soll das Wachstum laut IWF sogar negativ sein. Warum ist Deutschland selbst im europäischen Vergleich abgeschlagen?
Das liegt vor allem daran, dass die Auswirkungen der Energiekrise hier besonders gravierend waren. Zum einen hatte Deutschland besonders stark auf günstiges Pipeline-Gas aus Russland als Energieträger gesetzt, und dieser Kostenvorteil für die deutsche Industrie fiel auf einmal weg. Mit der Energiekrise hat besonders die chemische Industrie Probleme bekommen und musste ihre Produktion stark reduzieren. Zum anderen sind die Energiepreise auch für die deutschen Konsumenten stärker gestiegen als in anderen großen Ländern des Euroraums. Frankreich, Italien und Spanien haben früher und wirksamer den Kostenanstieg für die Endkunden zu begrenzt.
Und das alles wirkt sich auch dieses Jahr noch auf die Wirtschaft aus?
Ja, weil in Deutschland längerfristig laufende Versorgungstarife verbreitet sind. Endkunden werden hier häufig erst jetzt mit deutlich höheren Strom- und Gaspreisen konfrontiert. Dabei sind die Großhandelspreise für Gas und Strom schon wieder deutlich gesunken. Dazu ist es der Politik bislang nicht gelungen, der Wirtschaft die Unsicherheit darüber zu nehmen, was die Ausgestaltung und die Kosten der zukünftigen Energieversorgung angeht. Das dürfte sowohl die Investitionen der Unternehmen als auch die Ausgabebereitschaft der privaten Haushalte dämpfen.
„Konjunkturelle Schwäche ist Teil der Medizin“
Welche Weichen müsste die deutsche Politik Ihrer Meinung nach stellen?
Einerseits brauchen wir klare Signale, wie die Energieversorgung in der nächsten Zeit zu konkurrenzfähigen Preisen dargestellt werden soll. Andererseits sollte man auf geringere Wachstumsaussichten für dieses Jahr auch nicht mit dem Versuch reagieren, die Nachfrage anzukurbeln. Denn eine gewisse konjunkturelle Schwäche ist auch in Deutschland ein Teil der Medizin, um das Problem der Inflation in den Griff zu bekommen. Wir hören immer noch, dass Unternehmen Probleme haben, ihre Aufträge abzuarbeiten und über Mangel an Arbeitskräften klagen. Eine abgeschwächte Nachfrage ist in dieser Situation gerade nicht schädlich für die längerfristige Entwicklung der Wirtschaft.
Viele wundern sich, dass die russische Wirtschaft im Gegensatz zur deutschen wachsen soll. Wie kann das trotz Sanktionen sein?
Die Prognose für die russische Wirtschaft halte ich für sehr schwierig, weil wir dabei auf Daten aus Russland angewiesen sind, deren Qualität wir nicht prüfen können. Es gab zunächst definitiv einen Schock für die russische Wirtschaft und einen tatsächlichen Einbruch der Produktion. Aber dann hat sich die russische Wirtschaft auf die neue Situation eingestellt. Man hat Waren und Dienstleistungen, die vorher aus den sanktionierenden Ländern kamen, zumindest teilweise ersetzen können. Im Laufe der zweiten Hälfte 2022 ist es offenbar auch immer besser gelungen, die Sanktionen zu umgehen. Auf längere Sicht werden die wirtschaftlichen Kosten des Kriegs für Russland aber immens sein.
Zusammen mit Indien liegt China bei den IWF-Prognosen an der Spitze. Doch auch diese Länder haben Probleme. Welche?
Ja, China und Indien haben die höchsten Wachstumsraten. Aber verglichen mit den Prognosen vom Januar hat sich das Bild nicht wesentlich verbessert. Vor allem China hat erhebliche eigene Probleme. Über viele Jahre wurde dort der Bausektor aufgepumpt und ein finanzielles Ungleichgewicht geschaffen. Jetzt sinken die Immobilienpreise und die Aktivität im Wohnungsbau. Zwar wird die Regierung alles daran setzen, eine echte Krise zu verhindern, aber auch so sind die großen Wachstumsraten der vergangenen Jahre wohl vorbei. Im World Economic Outlook wird deshalb auch deutlich gesagt, dass sich der mittelfristige Ausblick gerade für China deutlich verschlechtert hat.
Warum hängt Chinas Konjunktur so stark ab vom Immobiliensektor?
Im internationalen Vergleich findet in China ein großer Teil der Wertschöpfung direkt im Bausektor statt und in den direkt verbundenen Bereichen wie Vermietung und Planung . Außerdem ist der Bausektor für die lokalen Gebietskörperschaften wichtig, die einen Großteil ihrer Einnahmen aus Landverkäufen beziehen. Wenn sehr viel weniger Immobilienprojekte umgesetzt werden als bisher, gehen diese Einnahmen stark zurück. Das könnte dann wiederum dazu führen, dass staatliche Ausgaben vonseiten der Kommunen und Distrikte zurückgefahren werden.
Und schließlich sind Immobilien der wichtigste Vermögensbestandteil der chinesischen Haushalte, die 70 bis 80 Prozent ihres Vermögens in Immobilien investiert haben. Wenn die Immobilienpreise weiter sinken, hat das großen Einfluss auf das Konsumverhalten der Bevölkerung. All das dürfte die Konjunktur in nächster Zeit erheblich bremsen.
„Indien ist ein Wachstumsstar in der Weltwirtschaft“
Löst Indien China ab als künftiger Wachstumsmotor der Weltwirtschaft?
Dieses Land ist im Moment tatsächlich ein Wachstumsstar in der Weltwirtschaft. Das Problem von Indien ist nur nach wie vor, dass es relativ schwach vernetzt ist. Es hat einen relativ geringen Außenhandelsanteil und das Einkommensniveau ist niedrig. Es kann nicht die Funktion als Absatzmarkt oder Produktionsstandort erfüllen, wie es China in den vergangenen 20 Jahren getan hat. Weil die Struktur der indischen Wirtschaft noch so geschlossen ist, kann es auch den Rest der Welt nicht mit seinem hohen Wachstum mitziehen. Deswegen ist das Potenzial Indiens als Wachstumsmotor für die Weltwirtschaft gegenwärtig begrenzt.
Sehen Sie denn Potenzial, dass Deutschland von Indiens Wachstum profitieren könnte?
Ja, auf jeden Fall. Indien ist ein Land, auf das es sich jetzt zu schauen lohnt. Die Bedingungen für deutsche Unternehmen, sich dort zu engagieren, sind aber andere als in China. Indien ist bisher sehr viel weniger offen für Direktinvestitionen und Strukturreformen, die das ändern wollen, kommen nur sehr langsam voran.