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Kommentar Weltordnung 2030

Das internationale System durchlebt eine turbulente Übergangsphase. So wie am Beginn des 20. Jahrhunderts. Von Philip Stephens
Haben sich nicht viel zu sagen: US-Präsident Obama und Kreml-Chef Putin beim G8-Treffen in Lough Erne 2013
Haben sich nicht viel zu sagen: US-Präsident Obama und Kreml-Chef Putin beim G8-Treffen in Lough Erne 2013
© Getty Images

Philip Stephens ist Kolumnist der Financial Times

Globalisierung ist kein Naturgesetz. Auch nicht der relative Frieden, der seit dem Zweiten Weltkrieg zwischen den großen Mächten herrscht. Russlands Annexion der Krim hat die Annahme hinweggefegt, dass Staaten ihre Grenzen nicht mit Gewalt verändern können. Wachsende Spannungen zwischen China und seinen Nachbarn sprechen gegen die These, dass die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit schon ein ausreichend robustes Bollwerk gegen Nationalismus bildet.

Charles Dickens schrieb über das revolutionäre Frankreich einmal, dies seien die besten und die schlimmsten Zeiten, ein Frühling der Hoffnung und ein Winter der Verzweiflung. Der National Intelligence Council der USA hat diese Formulierung kürzlich für einen Bericht entliehen, der sich damit beschäftigt, wie die Welt im Jahr 2030 aussehen könnte.

Man erkennt schnell, warum den Autoren das Dickens-Zitat gefiel. Die tumultartigen Veränderungen des internationalen Systems können gleichermaßen optimistisch und pessimistisch stimmen. Neben dem großen Wohlstand, den die Globalisierung dem Osten und Süden gebracht hat, gibt es die Risiken und Unsicherheiten, die immer auftreten, wenn eine alte Ordnung zu Ende geht.

Die große Unberechenbarkeit

Der erste Impuls ist die Begeisterung darüber, wie die Globalisierung hunderte Millionen Menschen aus der Armut holt. Der zweite ist die Sorge, ob die Verlagerung der globalen Kräfte nicht zu einer neuen Ära führt, in der Macht vor Recht geht. Selbst die Europäer, die auf die Welt heute lieber durch eine normative Brille schauen, denken allmählich, dass „Soft Power“ manchmal doch einen harten Kern benötigt.

Der Kalte Krieg hatte seine Nachteile – nicht zuletzt die Bedrohung durch den Nuklearkrieg. Danach verspielten die USA im Irak ihren Anspruch, als wohlwollender Hegemon zu agieren. Aber die bipolare und die unipolare Welt hatten doch immerhin den Vorteil, berechenbar zu sein. Die großen heutigen Sorgen ergeben sich aus der Unberechenbarkeit. Was will China? Stehen die USA am Beginn eines langen Rückzugs aus der Rolle als Garantiemacht des Friedens?

Wladimir Putin sieht sich als ein neuer Zar, Moskaus Marsch in die Ukraine erinnert deshalb auch daran, dass Bedrohungen nicht nur von neuen, sondern auch von untergegangenen Mächten ausgehen können. Eine heikle Frage, die in höflichen Diplomatenkreisen tabu ist, ist die nach dem Punkt, an dem Japan oder Südkorea sich durch China so bedroht fühlen, dass sie sich Atomwaffen zulegen.

Was sind die Garantien großer Mächte noch wert, wenn man sieht, wie Herr Putin das Budapest-Memorandum über den Verzicht der Ukraine auf eigene Atomwaffen missachtet?

China 2014 ist nicht Deutschland 1914

Diese Ungewissheiten, wie auch der Rückblick auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren, laden dazu ein, in den Spiegel der Geschichte zu schauen. Alexis de Tocqueville hat es schließlich einmal so formuliert: Die Geschichte ist eine Gemäldegalerie mit einigen Originalen und einer viel größeren Zahl an Kopien.

Es bringt dabei wenig, nach präzisen Analogien zu suchen. China im Jahr 2014 ist nicht das Deutschland von 1914. Peking wird auch keine gute Begründung für seine Pläne im ost- und südchinesischen Meer finden, wenn es sich darauf beruft, wie die USA unter Präsident Theodore Roosevelt die britische Navy aus der Karibik vertrieben haben.

Die Parallelen werden beunruhigend, wenn man sich die Verschiebung der großen Kräfte im internationalen System ansieht. Die Welt stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Anfang einiger großer Übergänge. Das Zeitalter der großen Reiche wich dem der Nationen, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich konnten den Belastungen nicht mehr standhalten. Der ethnische Nationalismus wurde bald eine mächtige motivierende Kraft in den internationalen Beziehungen.

Macht verlagerte sich vom Osten an den Westen des Atlantik, von Europa zu den USA. Und die Globalisierung wurde durch Protektionismus zurückgedrängt – als Folge wie auch als Ursache des Krieges.

Aufstieg einer globalen Mittelschicht

In den ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts erleben wir eine ähnlich gewaltige Neuverteilung der Macht. Diesmal gibt es eine Verschiebung von Atlantik zum Pazifikraum. Wir reden ständig vom Osten, aber das heißt nicht, dass der Westen verstanden hat, was das Ende seiner 200 Jahre alten Hegemonie bedeutet.

Der zweite Übergang ist die Machtverschiebung zwischen Regierungen und Völkern, die innerhalb der Staaten stattfindet. Der Aufstieg einer globalen Mittelschicht, der begleitet wird von der Revolution der Kommunikationstechnik, stellt die bisherigen Annahmen über das Verhältnis zwischen Individuen und Staat in Frage. Die Bürger sind immer besser in der Lage, ihre herrschenden Eliten herauszufordern – während diese Eliten zugleich auch durch die Globalisierung geschwächt werden.

Der gefährlichste Übergang ist der von einer berechenbaren Ordnung zu einer, die keinen klaren Anker mehr hat – eine Ordnung, in der die etablierten Mächte die Autorität verlieren, ein regelbasiertes System aufrechtzuerhalten. Und in der aufstrebende Staaten sich jeden Eingriff in ihre nationale Souveränität verbitten. In dieser Welt wird der ökonomische Wettbewerb, den die Globalisierung freisetzt, zum Beschleuniger eines auftrumpfenden Nationalismus, der dann wiederum stärker ist als die wirtschaftliche Verflechtung.

Also: Ja, es gibt die reale Gefahr, dass die Globalisierung so zerbricht wie vor hundert Jahren. Und dass der Multilateralismus aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von machtbetonten multipolaren Konflikten abgelöst wird. Genauso gefährlich wie ein überambitioniertes China wäre unter diesen Umständen eine Entscheidung der USA, sich von der internationalen Bühne so zurückzuziehen wie in den 1920er und 1930er Jahren.

Es gibt keine Zwangsläufigkeiten. Wie die Historikerin Margaret MacMillan nachgezeichnet hat, hätte Europa 1914 auch eine andere Richtung nehmen können, wenn es weniger Fehleinschätzungen und ein anderes Zusammenspiel der Charaktere gegeben hätte. Ein Jahrhundert später sind Atomwaffen gleichermaßen die größte Gefahr für die Welt wie auch die stärkste Barriere gegen Kriege der großen Mächte.

Wie hat Dickens geschrieben? „ „Wir alle fuhren direkt in den Himmel. Wir alle fuhren direkt in die andere Richtung.“ Damals wie heute gibt es eine Wahl.

Copyright: The Financial Times Limited 2014

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