Anzeige

Gastbeitrag Wir müssen jetzt für westliche Werte werben!

Bundeskanzlerin Angela Merkel mit US-Präsident Donald Trump
Bundeskanzlerin Angela Merkel mit US-Präsident Donald Trump
© dpa
„America First“ und Handelskriege: Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Während die einen das Ende des „Multilateralismus“ einläuten, kommt es nun auf jeden anderen an: Wir alle sind gefordert, die westliche Wertegemeinschaft zu verteidigen

Globalisierung, Digitalisierung und Migration prägen in den westlichen Ländern den ökonomischen und kulturellen Wandel. Künstliche Intelligenz und Automatisierung kündigen einen revolutionären Umbruch der Arbeitswelt an – und gleichzeitig scheint das traditionelle Wachstumsversprechen des Kapitalismus an seine Grenzen zu stoßen. Angesichts neuer Technologien spürt vor allem die Mittelschicht die wirtschaftlichen Unsicherheiten, hergebrachte Erwerbsbiografien werden immer seltener. Zudem hat sich durch die allgegenwärtigen sozialen Medien der Ton der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verschärft, in Filterblasen gedeihen Radikalisierung und Spaltung. Verunsicherung ist oft die Folge und schlägt sich zunehmend in mangelndem Vertrauen in die politischen und wirtschaftlichen Eliten nieder.

Diese Entwicklungen finden in nahezu allen westlichen Gesellschaften statt – und auf beiden Seiten des Atlantiks. Zwei aktuelle Studien zu diesen Themen belegen diesen Zerfall der Wertegemeinschaft, dem sich die Zivilgesellschaft entgegenstemmen muss.

Wahrnehmung Deutschlands in den USA: Nicht relevant und wenig sympathisch

Es stünde viel auf dem Spiel, wenn sich nach den Regierungen nun auch die Menschen beiderseits des Atlantiks auseinanderlebten. Wie weit der Entfremdungsprozess bereits vorangeschritten ist, dokumentiert die Studie „Wahrnehmung Deutschlands in den USA“, die wir kürzlich an der European School of Management and Technology Berlin (ESMT) durchgeführt haben. Sie besteht aus einer Big-Data-Analyse von über zehn Millionen Twitter-Beiträgen und online verfügbaren Nachrichtenseiten in den Vereinigten Staaten (Dr. Nina Smidt, Studie: „Perceptions of Germany in the United States“, ESMT, Berlin 2018; PVM-Methodik und Begleitung Prof. Burkhard Schwenker, Prof. Torsten Oltmanns, Roland Berger, Prof. Ivo Hajnal, Universität Innsbruck).

Die Ergebnisse sind überraschend deutlich: Die Amerikaner, die sich zu oder über Deutschland äußern, empfinden unser Land mehrheitlich zwar als „effizient“, im Kern aber als unkalkulierbar, unsympathisch und vor allem: als nicht mehr relevant, zersplittert, ohne wirkliche Bedeutung. Sie kommentieren die angebliche Ausbreitung des Islam, den Aufstieg rechtsextremer politischer Parteien sowie – immer noch – die NS-Vergangenheit Deutschlands.

Und mehr noch: Uns wird kaum Empathie entgegenbracht, denn die Wortclusteranalysen zeigen sehr schwache Werte bei Attributen wie „Sympathie“ oder „Charakter“. Und auch wenn erkennbar ist, dass diese negativen Emotionen in Bundesstaaten mit überwiegend republikanischer Wählerschaft stärker ausgeprägt sind als in Staaten, in denen die Bevölkerung mehrheitlich den Demokraten nahesteht, wird eines doch klar: Eine positiv belegte transatlantische Wertegemeinschaft ist aus Sicht vieler Amerikaner keine Selbstverständlichkeit mehr.

Es besteht also dringender Handlungsbedarf, die Sicht auf Deutschland in den USA wieder positiv zu verändern. Denn es geht um viel: Über sieben Jahrzehnte hinweg war diese von gemeinsamen Werten getragene Partnerschaft der Garant einer multilateralen Ordnung, die Freiheit ermöglicht und Frieden und Wohlstand sichert.

Die liberalen Demokratien stecken in einer Krise

Dieser Blick auf den aktuellen Status des transatlantischen Verhältnisses ist schon ernüchternd, aber er fügt sich, schlimmer noch, in ein großes Bild: dass die liberalen Demokratien in einer tiefen Vertrauenskrise stecken. Das zeigt in aller Deutlichkeit der Democracy Perception Index 2018, den die Alliance of Democracies Foundation und Rasmussen Global Mitte Juni veröffentlichten. Bei dieser weltweiten Umfrage, die der frühere Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen initiiert hat, stellte sich heraus, dass die Bürger demokratischer Staaten ihre Regierungen kritischer beurteilen als die Bürger autoritärer Staaten. 51 Prozent der Menschen weltweit haben das Gefühl, keine Stimme in der Politik zu haben. 58 Prozent gaben an, dass ihre Regierungen nicht in ihrem Interesse handeln. Vor allem haben sie wenig Vertrauen, dass ihre Regierung „vom Volk“ gebildet wird und „für das Volk“ arbeitet.

Am überraschendsten ist jedoch, dass diese öffentliche Desillusionierung in Demokratien höher ist als in Nicht- Demokratien. Fast zwei Drittel, 64 Prozent der in Demokratien lebenden Bürger glauben, dass ihre Regierung „selten“ oder „nie“ im Interesse der Öffentlichkeit handelt. In autoritären Staaten vertreten nur 41 Prozent diese Einschätzung.

Ungewissheit als neues Phänomen

Diese Umfragewerte wie auch die amerikanische Sicht auf Deutschland sind Symptome einer Vertrauenskrise, die eben auch darin begründet ist, dass Wahrnehmung und Meinungen heute einflussreicher sind als tatsächliche Leistungen und Fakten. Hinzu kommt ein weiteres: Auch objektiv betrachtet wird es immer schwieriger, ein klares Bild der Lage zu gewinnen. Technologische Sprünge werden immer dynamischer, Risiken größer, globale Verwicklungen komplexer. Und mehr noch: Zusammenhänge sind längst nicht mehr so eindeutig wie früher, Bedrohungen nicht immer sofort erkennbar, Freund und Feind nicht immer klar zu unterscheiden. Jederzeit können neue, unerwartete Entwicklungen eintreten und vormals bewährte politische oder diplomatische Vorgehensweisen in Frage stellen.

Die einfache Antwort auf diese Form der Ungewissheit liegt darin, vergeblich zu versuchen, alles Ungewisse zu vermeiden, zu vermeintlich einfachen Wahrheiten und Sicherheiten zurückzukommen – „America first“ ist das beste Beispiel dafür. Die richtige Antwort wäre: Orientierung zu geben, echte Zukunftsbilder zur Diskussion zu stellen, Prioritäten zu setzen und zu begründen, „klare Kante“ zu zeigen, wenn es um Werte geht. „Besorgte Bürger“ dies- und jenseits des Atlantiks nicht zu „verstehen“, sondern eine rote Linie zu ziehen, wenn aus Protest Rechtsradikalismus wird.

Die Zivilgesellschaft muss für die liberalen Demokratien werben

Angesichts des wachsenden Zynismus über die Effektivität von Demokratie oder die Bedeutung transatlantischer Werte dürfen wir nicht länger schweigend zuschauen, wenn laut nach Außen getragene Meinungen die sachliche Argumentation ersetzen möchte, wenn Ungewissheit für zu einfache Wahrheiten missbraucht wird. Es ist daher an der Zeit für ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Akteure, die die Initiative für einen neuen Diskurs und eine neue Kommunikationskultur ergreifen. Aber wie? Klar ist jedenfalls, dass die üblichen Konferenzen, in denen meist doch nur Bekehrte zu Bekehrten sprechen und den Werteverfall beklagen, nicht mehr helfen.

Genauso klar ist, dass die vielbeschworene Suche nach „neuen Narrativen“ vielleicht intellektuell reizvoll ist, aber hier und jetzt nicht hilft. „Klare Kante“ bedeutet, jetzt Stellung zu beziehen, in neuen Formaten, an überraschenden Orten, mit einem anderen Publikum, auf Social Media. Jeder von uns, zu jeder Zeit, bei jeder passenden Gelegenheit. Statt im Rathaus in der Stadthalle, statt in Stiftungen im alternativen Kulturzentrum. Anders gesagt: Werben bedeutet, die intellektuelle Komfortzone zu verlassen!

Transatlantisch gesehen heißt das: Wenn wir die Herzen der Amerikaner wieder gewinnen wollen, sollten wir nach Oklahoma gehen statt nach Washington, sollten wir in die Betriebe gehen, statt Anzeigen zu schalten, sollten wir mit den Menschen ins Gespräch kommen – jeder, der „drüben“ ist, bei jeder Gelegenheit.

Zu viel verlangt? Vielleicht, aber es steht eben auch viel auf dem Spiel, wenn die weltweite Zusammenarbeit, wenn die Vereinten Nationen, die EU und andere internationale Strukturen weiter geschwächt würden. Wer die westliche Wertgemeinschaft zur Disposition stellt, schürt nicht nur den Krieg in den Krisenregionen. Er gefährdet auch die Grundlagen der liberalen Demokratien und damit die Freiheit, den Wohlstand und den Weltfrieden insgesamt.

Prof. Dr. Burkhard Schwenker ist Partner der Unternehmensberatung Roland Berger. Zudem ist er stellvertretender Vorsitzender der Atlantik-Brücke und Mitglied im Kuratorium der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

Dr. Nina Smidt leitet den Bereich Internationale Planung und Entwicklung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

Mehr zum Thema

Neueste Artikel

VG-Wort Pixel