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Bernd Ziesemer Die Industrie entscheidet den Krieg

Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
© Martin Kress
Je länger die Kämpfe zwischen Ukrainern und Russen dauern, desto mehr rückt die Wirtschaft in die Schlüsselrolle. Das bedeutet: Auch unsere Industrie muss sich auf den Krieg umstellen

Über 400.000 Lastwagen, 20.000 Panzer, fast 19.000 Flugzeuge und 200 Schiffe lieferten die USA zwischen 1941 und 1945 an die Sowjetunion, um Hitlers Armeen niederzuringen. Ohne dieses Lend-Lease-Programm wäre Stalins Sieg unmöglich gewesen – eine unbestreitbare Tatsache, die im russischen Narrativ über den „Großen Vaterländischen Krieg“ heute völlig ausgeblendet wird. Im Vergleich zu diesen Zahlen mutet die heutige Debatte über 14 deutsche Leopard-Panzer für die Ukraine skurril an. Natürlich muss man mit historischen Vergleichen immer vorsichtig sein, aber der russische Oppositionelle Michail Chodorkowski hat mit seiner Einschätzung auf jeden Fall recht: Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem Wirtschaft den Krieg entscheidet.

Man kann das an einem einfachen Beispiel illustrieren: Beiden Seiten an der Front im Donbass geht mittlerweile die Munition für ihre Geschütze aus. Wem es möglichst schnell gelingt, die Geschossproduktion hochzufahren, der verschafft sich einen großen Vorteil im Abnutzungskrieg. Selbst die Amerikaner, die über die weltgrößte Militärmacht verfügen, machen sich seit Wochen viele Gedanken über dieses Problem. Die Europäer verfügen nicht über die notwendigen Kapazitäten in ihrer seit Jahren heftig zusammengeschrumpften Rüstungsindustrie. Rheinmetall fährt jetzt wenigstens eine Produktionslinie hoch für die Versorgung des Flugabwehrpanzers Gepard, der in der Ukraine unersetzbar ist für die Verteidigung gegen den russischen Dauerbeschuss mit Raketen und Drohnen.

Die Europäer, vor allem die Deutschen, verweigern sich aber nach wie vor einer – zugegebenermaßen paradoxen – Einsicht: Unsere Industrie muss sich auf den Krieg umstellen, obwohl wir keine Kriegspartei sind. Es sei denn, wir geben uns wieder einmal der gefährlichen Hoffnung hin, dass die USA schon allein alles in die Hand nehmen. Dort läuft die Rüstung in einigen Bereichen bereits wieder auf Hochtouren. Aber allein wollen sie das Problem nicht lösen – obwohl sie es im Zweifel könnten.

Ohne Hilfe von außen kann die Ukraine den Krieg nicht gewinnen

In Deutschland klaffen Sicherheits- und Wirtschaftspolitik schon traditionell weit auseinander. Nach Putins Erpressungen mit den beiden Waffen Öl und Gas, gilt das zumindest im Energiebereich nicht mehr. Aber in unseren Prognosen für Finanzen und Wirtschaft kommen die Folgen eines langen Kriegs in der Ukraine höchstens ganz am Rande vor. Und so sehr sich der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius auch bemüht, Schwung in die Beschaffung von Waffen für die Bundeswehr zu bringen, so herrscht in den nachgeordneten Ämtern und Bereichen doch eher bürokratisches Business wie immer.

Militärisch können nur die Ukrainer selbst den Feind besiegen. Die NATO wird weiter alles tun, um nicht selbst Kriegspartei zu werden. Aber Putins Kriegsmaschinerie können die Ukrainer auf keinen Fall allein niederringen, so sehr sie sich seit dem Überfall auch bemühen, ihre eigene Rüstungsindustrie mit viel Kreativität und noch mehr Fleiß auf die Anforderungen an der Front auszurichten.

Ohne die stetige Hilfe von Amerikanern und auch Europäern mit Panzern, Munition und vielem mehr kann die Ukraine nicht siegen. Und wenn sie verliert, dann bliebe die Herausforderung für uns doch die gleiche. Nur hätten wir es dann mit einer direkten russischen Bedrohung der NATO zu tun.

Bernd Ziesemer

ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.

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