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Kommentar Wahrscheinlich stimmen die Briten...

…für den EU-Verbleib. Oder doch für den Brexit? FT-Autor John Kay über die unterschiedlichen Prognosen von Umfragen und Buchmachern.

Wer auf das Ergebnis des EU-Referendums spekuliert, kann sich entweder auf Meinungsumfragen oder Prognosemärkte stützen. Am Morgen des 20. Juni sahen Umfragen die Wahrscheinlichkeit, dass die EU-Befürworter gewinnen bei 52 Prozent. Die Schätzung der Prognosemärkte lag bei 75 Prozent für den Verbleib. Das ist eine große Diskrepanz.

Wenn Sie eine Münze werfen, gibt es eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass sie mit dem Kopf nach unten landet. Wenn Sie die Münze viele Male werfen, wird sie jeweils zur Hälfte mit Kopf oder Zahl nach oben auf dem Boden liegen. Aber was bedeutet, die Wahrscheinlichkeit eines EU-Verbleibs liege bei 52 Prozent oder 75 Prozent? Das Referendum ist ein einmaliges Ereignis und das Ergebnis wird entweder bleiben oder austreten heißen. Eine 52-prozentige Wahrscheinlichkeit für den Verbleib heißt also nicht, dass das Referendum, wenn es 100 Mal abgehalten würde, in 52 Fällen mit einem Ja zur EU ausgehen würde.

Da die Wahrscheinlichkeitsrechnung Eindruck macht und gut zu verstehen ist, nutzen viele in ihrer Argumentation solche mathematischen Begriffe, wenn sie über Unwägbarkeiten sprechen. Aber es ist nicht gesagt, dass die Analogie funktioniert.

Unterschiedliche Herangehensweise

Die Meinungsforscher, die von einer 52-prozentigen Wahrscheinlichkeit für den Verbleib ausgehen, machen folgende Rechnung auf: Sie gehen davon aus, dass die Menschen ihnen bei ihren Umfragen die Wahrheit gesagt haben und dass es sich bei den Befragten um eine Stichprobe derjenigen handelt, die am Donnerstag tatsächlich ihre Stimme abgeben werden. Sie haben herausgefunden, dass knapp über 50 Prozent der Bevölkerung für „Remain“ votieren wollen. Dann verwenden sie statistische Methoden, um die Fehler in der Stichprobe zu berechnen. Diese Berechnung sagt ihnen, dass es in der gesamten Bevölkerung eine 52-prozentige Wahrscheinlichkeit für den Verbleib gibt, wenn ihre Stichprobe die EU-Anhänger leicht vorne sieht.

Wer zur Berechnung von Wahrscheinlichkeiten Wettmärkte nutzt, nähert sich dem Problem ganz anders. Hier wird davon ausgegangen, dass jeder eine „subjektive Wahrscheinlichkeit“ bei der Beurteilung des Ergebnisses hat. Sie werden auf „Remain“ wetten, wenn Ihre subjektive Wahrscheinlichkeit Ihnen sagt, dass es eine 60-Prozent-Chance für den Sieg des Pro-EU-Lagers gibt. Wenn die subjektive Wahrscheinlichkeit für den Verbleib nur bei 40 Prozent liegt, werden Sie auf den Austritt wetten. Die Quoten am Wettmarkt spiegeln die Summe Geld wider, die für jedes der möglichen Ergebnisse eingesetzt wird. Somit repräsentieren sie einen Durchschnitt jeder subjektiven Wahrscheinlichkeit, gewichtet durch das Geld, das hinter diesen Einschätzungen steht.

Welche Wahrscheinlichkeit ist nun richtig? Sowohl 52 Prozent und 75 Prozent sind richtige Antworten auf verschiedene Fragen. Die Antwort der Meinungsforscher beruht auf der Grundlage der Wahlabsichten der Befragten und die Antwort der Buchmacher auf der Einschätzung der Wahlabsichten durch ihre Kunden.

Nur die Unsicherheit ist sicher

Aber das beantwortet nicht die Frage, was die beiden Wahrscheinlichkeitsaussagen bedeuten. Wenn das „Intergovernmental Panel on Climate Change“ feststellt, der Mensch sei mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit Verursacher der globalen Erderwärmung, bedeutet es nach ihrer eigenen Definition, dass sie den Einfluss des Menschen auf die Erderwärmung für sehr wahrscheinlich hält. Die Zahl vermittelt keine zusätzlichen Informationen - welche auch immer.

Als US-Präsident Barack Obama 2011 die entscheidende Sitzung zur Genehmigung des Überfalls auf das Versteck Osama bin Ladens in Pakistan leitete, reichten die Schätzungen seiner Berater über die Wahrscheinlichkeit, ob sich bin Laden dort aufhält von zehn bis 95 Prozent. Obama soll gesagt haben: „Ich bin an Leute gewöhnt, die mir Wahrscheinlichkeiten anbieten.“ In dieser Situation hätten sie ihm zu Beginn Wahrscheinlichkeiten präsentiert, die ihre Unsicherheit kaschieren sollten, statt ihn mit nützlicheren Informationen zu versorgen. Zusammenfassend sagte er: „Es steht fifty-fifty. Schaut Jungs, das ist wie das Werfen einer Münze. Ich kann meine Entscheidung nicht auf die Annahme stützen, dass wir keine größere Sicherheit als das haben.“

Der Präsident wollte damit nicht andeuten, die Wahrscheinlichkeit von bin Ladens Anwesenheit liege bei 0,5; noch weniger, dass die schwierigste Entscheidung seiner Präsidentschaft auf einem Münzwurf beruhte. Er wollte vielmehr zum Ausdruck bringen, dass angesichts der radikalen Unsicherheit Entscheidungsträger handeln müssen, auch wenn sie schlicht nichts wissen – und da hilft ihnen auch keine pseudo-wissenschaftliche numerische Krücke.

Copyright The Financial Times Limited 2016

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