Es gab eine Zeit, da waren die vier Buchstaben IABG in der Bundeswehr für einen Gag gut. Für manche stand die Abkürzung für „Institut zur Ausgabe von Bundesgeld“. Für andere war es das „Institut zur Abgabe bestellter Gutachten“.
Tatsächlich heißt die Firma hinter den vier Buchstaben Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft. Das ehemals bundeseigene Unternehmen aus Ottobrunn, das 1961 unter Verteidigungsminister Franz Josef Strauß gegründet wurde, ist heute im Privatbesitz. Für Airbus führt es seit den 70er-Jahren Belastungstests bei neuen Maschinen durch. Aber auch die Bundeswehr schaltet die Gutachter immer noch gern ein, wenn es um Flugzeuge, Drohnen und anderes Fluggerät geht.
Auch Ende April 2015 bekam die IABG einen Auftrag aus dem Rüstungsamt des Verteidigungsministeriums. Volumen: 1,6 Mio. Euro, der Auftrag wurde ohne Ausschreibung vergeben. Die Bundeswehr wollte ein neues Luftverteidigungssystem zum Schutz gegen Flugzeuge, Hubschrauber, Drohnen und taktische Raketen bestellen. Und die IABG sollte prüfen, ob der Wunschkandidat dafür überhaupt infrage kommt.
Für die neue Luftabwehr musste sich Ministerin Ursula von der Leyen zwischen zwei Anbietern entscheiden. Auf der einen Seite eine modernisierte Version des amerikanischen Patriot-Systems, bekannt aus dem ersten Irakkrieg, das auch bei der Bundeswehr seit Ende der 80er-Jahre im Einsatz ist. Auf der anderen das Medium Extended Air Defense System, kurz Meads, eine amerikanisch-deutsch-italienische Neuentwicklung.
Für von der Leyen war es eine brisante Entscheidung: das erste große Rüstungsprojekt in ihrer Amtszeit, 4 Mrd. Euro Gesamtkosten. Ein Projekt, das auch für eine neue Zeit bei Waffendeals stehen soll. Nur fünf Wochen nachdem die IABG beauftragt worden war, legte sich die Ministerin fest – auf Meads.
Schon immer waren Rüstungsprogramme für Verteidigungsminister politische Sprengsätze. Oft dauerten sie viel zu lange, wurden viel zu teuer, bargen zu viele Risiken. Filz in Behörden und Bundeswehr, politische Einflussnahme und Lobbydruck führten regelmäßig dazu, dass Projekte für Kampfflugzeuge oder Panzer zum Desaster wurden.
Von der Leyens Vorgänger Thomas de Maizière etwa wäre fast über die Riesendrohne Eurohawk gestolpert – die nicht fliegen durfte, weil sie keine Zulassung für den deutschen Luftraum bekam. In einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss wurde später bekannt, dass die IABG ihren wichtigen Kunden Airbus an einem Gutachten zu Alternativen für den Eurohawk mitschreiben ließ – obwohl Airbus selbst an der Pleitedrohne beteiligt war.
Schluss mit Schönrechnen
So etwas sollte es bei von der Leyen nicht mehr geben. Im Herbst 2014 rief die ehrgeizige Ministerin eine Revolution aus, um „Missmanagement“ und „nicht akzeptable“ Zustände in ihrem Haus zu bekämpfen. Künftig werde transparenter über Rüstungsprojekte informiert, versprach sie. Risiken sollten nicht mehr kleingeredet, Kosten nicht mehr heruntergerechnet werden. Verträge mit der Industrie sollten professionell und „auf Augenhöhe“ verhandelt werden. Mehr Betriebswirtschaft, weniger Klüngelei.
Doch bei von der Leyens erstem Großprojekt zeigt sich, dass ihre Mission noch am Anfang steht. Recherchen von Capital belegen am Beispiel von Meads, dass viele der Missstände im Apparat weiter bestehen: Prüfer, die mit dem Projekt verbandelt sind, das sie untersuchen sollen. Interessenkonflikte bei Beamten. Steuertricks, die man sonst nur von Amazon oder Google kennt. Hohe Kostenrisiken. Rüstungsentscheidungen als Standortpolitik. Auch die ersten Verzögerungen im Zeitplan sind bereits eingetreten. „Das ist das gleiche Theater wie bei früheren Projekten“, sagt ein Experte, der viele Programme aus der Nähe kennt. „Man kann sich schon ausmalen, wie das Stück weitergeht.“
Meads gegen Patriot – jahrelang hatte eine Lobbyschlacht um den Milliardenauftrag für das künftige Boden-Luft-System getobt. Ursprünglich sollte das seit 2004 von den USA, Deutschland und Italien entwickelte Meads die alternden Patriot-Systeme der Partner ersetzen. Etwa 4 Mrd. Euro sind bis heute in die Entwicklung geflossen, davon 1,2 Mrd. Euro aus dem Bundeshaushalt.
Doch 2011 kündigten die USA an, Meads nicht zu kaufen. Auch den Italienern war die Beschaffung zu teuer. Seitdem hing das Schicksal von Meads allein an den Deutschen. Und der amerikanische Patriot-Hersteller Raytheon witterte die Chance, zurück ins Spiel zu kommen. Auf dem Weltmarkt für Luftabwehrsysteme geht es in den nächsten 15 Jahren Schätzungen zufolge um mindestens 100 Mrd. Dollar.
Als Alternative zu Meads bot Raytheon der Bundeswehr eine aufgerüstete Patriot-Version an. Bei „unter 2 Mrd. Euro“ habe die Offerte für die Modernisierung der 14 deutschen Patriot-Einheiten gelegen, sagt Raytheons Deutschland-Statthalter James Monroe – und das, fügt er hinzu, bei besserer Leistung, aber geringerem Risiko als bei Meads: „Unser System muss nicht mehr von Grund auf entwickelt werden. Es ist schon voll einsatzfähig und wird ständig verbessert, um auch den neuen Bedrohungen gewachsen zu sein.“ Für Meads ging es nun um alles.
Mehr als 15 Terabyte Daten

Ein großes Waldstück in der Nähe von Ingolstadt, hier sitzt die deutsche Tochter des europäischen Rüstungskonzerns MBDA gut geschützt hinter einem Zaun. Auf dem Firmengelände produziert MBDA Raketen für Kampfflugzeuge und Hubschrauber, die hier niemand Raketen nennt, sondern Lenkflugkörper. Ab und an hört man einen Knall, wenn auf dem Sprengplatz Tests durchgeführt werden.
Auch für das Unternehmen mit seinen 1 300 Mitarbeitern und rund 300 Mio. Euro Umsatz ging es bei der Entscheidung für die künftige Luftabwehr um eine Menge. Für MBDA Deutschland, die neben dem US-Rüstungsriesen und Raytheon-Rivalen Lockheed Martin an der Entwicklung beteiligt war, ist Meads das wichtigste Vorhaben von allen. Der Schock war groß, als die USA das Projekt fallen ließen und die Entwicklungsphase verkürzt werden musste. Später schrieb auch von der Leyens Vorgänger de Maizière in seine Rüstungsplanung, dass Meads nicht beschafft werden solle.
Inzwischen ist alles anders. Nach von der Leyens Kehrtwende im Juni 2015 ist klar, dass Deutschland das System im Alleingang fertig entwickeln will. Und MBDA soll nun den Auftrag als Generalunternehmer für das Projekt bekommen. Als Partner wird auch Lockheed dabei sein.
Ein Teil dessen, was es von Meads heute schon gibt, ist auf dem MBDA-Firmengelände in einer Halle mit besonders scharfen Sicherheitsauflagen zu sehen. Wer als Besucher herein will, sollte besser die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Handys müssen draußen bleiben.
In der Halle parken zwei mächtige tarnfarbene Lastwagen. Auf den einen ist ein Startgerät für Abfangraketen montiert, auf den anderen ein Gefechtsstand, vollgestopft mit Elektronik. Bald soll auch der ganze Stolz der Ingenieure nach Schrobenhausen kommen: das neuartige Radar, das einen Rundumblick von 360 Grad ermöglicht und das nach Darstellung des Ministeriums einer der entscheidenden Gründe für den Zuschlag für Meads war. Derzeit befindet sich das Gerät noch zur Begutachtung bei der Bundeswehr.
Auch auf das mehr als 15 Terabyte große Datenarchiv aus dem internationalen Projekt wird MBDA zugreifen können. Insgesamt sei Meads zu 86 Prozent fertig entwickelt, heißt es. Noch zwei Testschüsse sind geplant. Bis 2025 soll das System dann an die Bundeswehr ausgeliefert werden.
MBDA-Chef Thomas Homberg empfängt in seinem Büro im dritten Stock. Vor seinem Job hier war er Strategievorstand im Airbus-Konzern, der über die Pariser MBDA-Mutter an MBDA Deutschland beteiligt ist. Homberg, ein früherer Fallschirmjäger, kennt sich mit Problemprojekten wie dem Kampfhubschrauber Tiger oder dem Militärtransporter A400M aus.
Für Deutschland sei die Meads-Entwicklung eine „intelligente Investition“ gewesen, sagt der Manager. 25 Prozent der Kosten, Zugriff auf 100 Prozent der Ergebnisse. „Es ist richtig und vernünftig, diese Ergebnisse in Zukunft zu nutzen.“
Meads sei „das leistungsfähigste System, das es weltweit gibt“, schwärmt Homberg. 360-Grad-Schutz, niedrige Betriebskosten, hohe Mobilität im taktischen Lufttransport und eine offene Systemarchitektur, an die sich NATO-Partner mit anderen Systemen andocken könnten. Und noch ein Punkt ist ihm wichtig: Bei Meads habe Deutschland die „volle Systemhoheit“ und Zugriff auf die gesamte Technologie. „Das ist neu in der Geschichte der deutschen Luftverteidigung.“ Den Meads-Anhängern in der Politik geht es auch darum, Europa militärisch unabhängiger von den USA und der US- Rüstungsindustrie zu machen.
Und was ist mit den Risiken? „Wir entwickeln hier Hochtechnologie“, sagt Homberg. „Das ist nur mit einem professionellen Risikomanagement auf Kunden- und Unternehmensseite zu machen.“ Bei der Frage, ob die bislang eingeplanten 963 Mio. Euro für die Entwicklung reichen, hält er sich bedeckt. Aussagen zum Budget könne man vor den Verhandlungen „nicht belastbar treffen“. Dann muss Homberg los, ein Dreisternegeneral wartet.
Millionenaufträge für Hausgutachter IABG
Auch von der Leyen kennt die Risiken, die technischen – und die politischen. Im Sommer 2014 – nach einem halben Jahr im Amt – hatte sie ein 30 Mann starkes Expertenteam um die Beratungsfirma KPMG beauftragt, in einer „schonungslosen Analyse“ die neun wichtigsten Rüstungsprojekte zu durchleuchten. Es ging um ein Volumen von 57 Mrd. Euro. Das Gutachten sollte für von der Leyen auch eine Trennlinie sein: Alles, was bemängelt wird, geht auf das Konto ihrer Vorgänger. Die Arbeit, an der sie sich messen lassen will, beginnt erst danach.
Zum Projektmanagement bei Meads fand sich in dem Bericht ein vernichtendes Urteil: „Qualität und Quantität des bisherigen Entwicklungsstands“ des Projekts seien „nicht bekannt“, schrieben die Berater in der vertraulichen Langfassung ihres Gutachtens, die Capital ausgewertet hat. Mit anderen Worten: In Rüstungsamt und Ministerium kontrollierte niemand, was die Industrie mit den Milliarden für die Entwicklung auf die Beine gestellt hatte. Insgesamt listeten die Berater mehr als ein halbes Dutzend große Risiken auf, die dazu führen könnten, dass das Projekt länger dauert und mehr kostet als geplant.
Nach der Vorlage des ziegelsteindicken KPMG-Berichts im Oktober 2014 stoppte von der Leyen das Auswahlverfahren für die Luftverteidigung. Eine Überprüfung der verschiedenen Optionen wurde eingeleitet – auch mithilfe externer Experten. Aber wie es weiterging, erinnert eher an den alten Filz. Und nicht an den Kulturwandel, den die Ministerin unter dem Schlagwort „Agenda Rüstung“ ausgerufen hatte.
Ein halbes Jahr später, am 30. April 2015, vergab das Koblenzer Rüstungsamt den erwähnten 1,6-Mio.-Euro-Zuschlag an die IABG. Der Auftrag: „Untersuchung zur Nutzbarkeit und Nutzbarmachung der Meads-Entwicklungsergebnisse“. Die Firma ist in der Branche für ihre technische Expertise anerkannt, gilt aber auch als industrie- und insbesondere Airbus-nah. Zudem war sie eine Art Hausgutachter bei Meads.
Nun, wo es um eine Schlussbilanz der Entwicklungsphase ging, war der Auftrag delikat. Seit Jahren ist die IABG mit dem Projekt verflochten. In Huntsville, Alabama, sitzt die NATO-Agentur, die das internationale Meads-Entwicklungsprogramm steuerte. Im selben Ort angesiedelt ist die Firma Meads LLC, ein trinationales Joint Venture, das für die Agentur technische Analysen durchführte und Know-how unter anderem bei Kostenkontrolle, Datenarchivierung und Vorbereitung der Flugtests beisteuerte.
Aus NATO-Finanzberichten geht hervor, dass die Meads LLC allein in den Jahren 2013 und 2014 mehr als 16 Mio. Dollar aus dem Meads-Projektbudget erhielt. Auch aus Deutschland flossen für „Unterstützerverträge“ Millionensummen an die Firma. Genau diese Meads LLC zählt zur Firmengruppe der IABG, die auf deutscher Seite Anteilseigner des Joint Ventures ist. Und nun sollte die IABG unvoreingenommen untersuchen, ob die Entwicklungsergebnisse überhaupt verwertbar sind?
Dabei hatten die KPMG-Berater davor gewarnt, für künftige Gutachten wieder die IABG einzuschalten – zumal die Aufträge in der Regel zuließen, dass die Meads LLC als Unterauftragnehmerin eingebunden wird. „In der Außenwahrnehmung Dritter“ könne „eine mögliche Voreingenommenheit aufgrund der Meads-Vorbeauftragungen unterstellt werden“, schrieben sie. Stattdessen schaltete das Rüstungsamt die IABG sogar erneut ein, um die konkurrierenden Systeme nach Kriterien der Bundeswehr aus technischer Sicht zu bewerten.
Wie ein schlechter Scherz mutet da außerhalb des Rüstungsgeschäfts an, wie das Beschaffungsamt den Test durch die IABG im Vergabedokument begründet. Der Auftragnehmer habe „weitreichende und breite Erfahrung im Projekt Meads“ und Zugang zu geheimen Unterlagen der beteiligten US-Unternehmen haben müssen. Daher seien nur zwei Kandidaten infrage gekommen: die IABG – und die beteiligte Firma MBDA selbst.
Hahn war schneller als die Ministerin

Capital hat das Verteidigungsministerium mit diesen Details konfrontiert. Das Ministerium teilte mit, die IABG sei bereits „seit 2014“ beauftragt, für „Untersuchungen zur Nutzbarkeit der Meads-Entwicklungsergebnisse“ technische Fragen zu bearbeiten. Bei der Meads LLC handele es sich um einen „unabhängigen Auftragnehmer“ der NATO-Agentur.
Ganz oben auf von der Leyens „Agenda Rüstung“ steht vor allem, die Kosten für die Projekte beherrschbar zu machen. Auch dafür ist Meads ein Testfall. In Verträge mit der Industrie sollen nun „Abbruchkriterien“ hineinverhandelt werden. Sollte MBDA die vereinbarten Zwischenziele verfehlen, soll die Bundeswehr aus dem Vertrag aussteigen und „andere Lösungen“ verfolgen können.
Verteidigungsexperten wie Bernd Kubbig, der Meads seit den ersten Schritten in den 90er-Jahren beobachtet, zweifeln jedoch daran, dass von der Leyen oder ihre Nachfolger tatsächlich die Notbremse ziehen würden. Sollten erst einmal weitere Millionen in das Projekt geflossen sein, werde es politisch immer schwerer, ein verlorenes Investment zu rechtfertigen.
Auch deshalb halten sich massive Zweifel, dass der Deal im geplanten Finanzrahmen bleibt. Als eine Gruppe Bundestagshaushälter im April 2015 den Meads-Partner Lockheed Martin in den USA besuchte, bezifferte das Unternehmen die restlichen Entwicklungskosten auf rund 500 Mio. Euro. Nur vier Monate später informierte das Wehrressort das Parlament, dass fast 1 Mrd. Euro benötigt würden. Die Schätzung von Lockheed sei „sehr optimistisch“ gewesen und habe auf alten Prognosen beruht, teilte das Ministerium nun auf Anfrage mit. Zudem seien noch restliche Entwicklungsarbeiten nötig, um die nationalen Anforderungen an das System zu erfüllen.
Forscher Kubbig geht auf Basis interner Ministeriumspapiere davon aus, dass die Gesamtkosten inklusive Beschaffung bei mindestens 5 Mrd. Euro liegen dürften. „Es kann aber auch weitaus mehr werden“, sagt er. Von der Leyens neue Transparenz hält er schon wegen bruchstückhafter Informationen über die Kosten für eine „Scheintransparenz“.
Auf der anderen Seite gibt es Hinweise, dass bei der Entscheidung zwischen Patriot und Meads die Nutzungskosten für Patriot großzügig kalkuliert wurden. Bei dem US-System profitieren die Kunden davon, dass die Kosten für Upgrades auf alle derzeit zwölf Nutzerstaaten umgelegt werden. Dennoch setzten die Planer über die Nutzungsdauer von 30 Jahren für Patriot höhere Gesamtkosten an als bei Meads.
In den Niederlanden etwa war es anders: Auch dort rechnete die Regierung – und entschied sich für das Patriot-Upgrade, weil die Kosten für Meads sowohl bei der Beschaffung als auch bei der Nutzung „viel höher“ seien. In der NATO steht Berlin mit Meads bislang einsam da.
Als von der Leyen ihre „Agenda Rüstung“ ausrief, sprach sie von einem „Gebräu“, das für das bisherige Rüstungschaos verantwortlich sei. Neben handwerklichen Fehlern in Ministerium und Industrie zählte sie dazu auch „politische Einflussnahme“. Doch gerade im Fall Meads zeigt sich, dass die meisten Politiker Rüstungsprojekte immer noch als Industriepolitik betrachten – trotz des Spardrucks bei der Truppe.
Vor allem die CSU, aber auch führende Verteidigungspolitiker der SPD kämpften massiv für Meads. Bei einem Besuch bei MBDA versprach CSU-Chef Horst Seehofer im Herbst 2014, er werde sich in der Großen Koalition für Meads „verwenden“. Von der Leyens Staatssekretärin Katrin Suder, eine frühere Partnerin bei McKinsey, die nun die Rüstungsagenda durchboxen soll, klagte später in einem Bundestagsausschuss über Druck aus Bayern.
Zu den größten Meads-Verfechtern im Parlament zählt der CSU-Abgeordnete Florian Hahn. Der Verteidigungsexperte machte früher einmal Pressearbeit für die Rüstungsindustrie – und sitzt seit 2010 im Aufsichtsrat der IABG. Nachdem von der Leyens Entscheidung für Meads gefallen war, war es Hahn, der sie als Erster offiziell bestätigte – noch vor der Ministerin.
Aber auch in Rüstungsamt und Ministerium gab es bei wichtigen Entscheidern eine derartige Nähe zu Meads, dass ein sauberer Wettbewerb zwischen den verschiedenen Systemen unmöglich erschien. Auch nach von der Leyens Ankündigung, ihre Behörde von Filz zu säubern, änderte sich daran wenig.
"Interessenkonflikt systemisch angelegt"
Schon als die KPMG-Experten im Sommer 2014 Akten sichteten und Gespräche mit Beamten führten, stellten sie fest, dass man sich bereits weitgehend auf Meads festgelegt hatte. Bei der Suche nach geeigneten Lösungen seien die Chancen von Patriot-Systemen „nicht adäquat berücksichtigt“ worden, rügten die KPMG-Berater. Dagegen wirkten die Risiken „überbetont“.
Aus dem Gutachten geht hervor, dass bei der Bewertung der Vorschläge für das neue System auch die IABG eingeschaltet worden war. Allerdings fehlten der Firma Informationen zu Produktverbesserungen bei Patriot. Fazit der KPMG-Berater: Insgesamt sei eine Vergleichbarkeit der Vorschläge „derzeit nicht gegeben“. Wollten die Beamten ausschließen, dass die Wahl auf Patriot fällt? Oder lieferten sie nur das Ergebnis, das politisch gewünscht war?
Als besonders auffällig stuften die Berater die Rolle des Projektleiters für das künftige Luftabwehrsystem ein. Dabei handelt es sich um den gleichen Beamten im Rüstungsamt, der jahrelang auch für die Meads-Entwicklung verantwortlich war. Bei einer Präferenz für Patriot hätte er faktisch für die Beerdigung seines eigenen Projekts votiert. In dieser Konstellation sei ein „Interessenkonflikt systemisch angelegt“, bemängeln die Berater. Daher seien „negative Auswirkungen insbesondere bei der neutralen Bewertung, bei der Weitergabe von Informationen oder aber auch bei der Berichterstattung“ programmiert.
Als Beleg für die Befangenheit verweisen sie auf eine Analyse, die für die Auswahlentscheidung wichtig war. Darin kam der Projektleiter zu einem klaren Votum für Meads. Die Bewertung weise „Inkonsistenzen im Rahmen des Vorgehens, der Neutralität und Aktualität der Darstellung sowie im Ergebnis“ auf, rügten die Berater. In der Analyse betone der Projektleiter etwa den hohen Anteil nationaler Wertschöpfung bei Meads – ein Argument, das auch von Politikern angeführt wird. Tatsächlich liegt der deutsche Workshare nach internen Zahlen des Ministeriums bei beiden Systemen mit knapp 50 Prozent nahezu gleichauf.
Zu den Kuriositäten der Branche zählt dabei, dass MBDA selbst bei einem Zuschlag für Patriot mit im Spiel gewesen wäre – wenn auch in wesentlich kleinerem Maße. Bei der Wartung und Modernisierung der Patriot-Systeme ist die Firma Partner von Raytheon. Nach Angaben von Raytheon hängen heute 1 000 Jobs in Deutschland an Patriot.
Trotz der Zweifel an der Neutralität des Projektleiters sah niemand die Notwendigkeit, den Verantwortlichen auszuwechseln. Auch für die Überarbeitung der Vorschläge nach der Vorlage des KPMG-Berichts blieb der Beamte zuständig. In seine Verantwortung fielen zudem die folgenden Prüfaufträge an die IABG, die zu einem positiven Urteil über Meads führten. Das Ministerium will zu einzelnen Personalangelegenheiten keine Stellung nehmen.
Andere Merkwürdigkeiten des Meads-Projekts lassen sich ebenfalls schlecht mit von der Leyens Willen zum Neuanfang vereinbaren. Zum Beispiel die Kreativität der Beamten, wenn es um die Besteuerung des Projekts geht. Beim Import von Geräten und Software, die im internationalen Programm in den USA entwickelt wurden, drohte eine Steuerbelastung von bis zu 590 Mio. Euro. Mithilfe von Wirtschaftsprüfern fand das Wehrressort einen Weg, die Einfuhrabgabe auf rund 70 Mio. Euro zu drücken. Ursprünglich hatten Beamte sogar geplant, die Steuer komplett zu umgehen, indem sie die Einfuhr pro forma über eine NATO-Agentur in Luxemburg laufen lassen wollten.
Auch die ersten Verspätungen gehen auf das Konto der aktuellen Ministeriumsspitze. Nach dem Zuschlag für Meads im Juni 2015 war davon die Rede, dass der Vertrag mit MBDA bis April dieses Jahres abgeschlossen werden solle. Doch bis Anfang Februar hatte das Rüstungsamt nicht mal die Aufforderung zur Angebotsabgabe verschickt. Weil der Vertragsabschluss nun erst für Ende dieses Jahres geplant ist, gibt es bereits Probleme, das für 2016 im Haushalt eingeplante Geld für Meads auszugeben.
Manche Experten glauben sogar, dass der Vertrag nicht mehr vor der Bundestagswahl 2017 durch das Parlament geht. Geht man davon aus, dass von der Leyen nach dieser Wahl nicht im Wehrressort bleibt, hätte sie es dann tatsächlich geschafft, die Risiken eines Großprojekts zu minimieren – zumindest ihre persönlichen.
Ein Ministeriumsinsider sagt es so: „Wenn es keinen Vertrag gibt, kann es später auch keinen Untersuchungsausschuss geben.“
Der Bericht erschien zuerst in der Capital-Ausgabe 3/2016.
Nach dem Erscheinen des Beitrags hat Staatssekretärin Suder zwei Beamte im Rüstungsamt versetzt: den Meads-Projektleiter und den Leiter des Vertragsreferats. Für eine weitere externe Risikoanalyse zu Meads im Sommer wurde in der Ausschreibung die Bedingung formuliert, dass der Auftragnehmer über keine geschäftlichen Verbindungen zur Luftverteidigungsbranche verfügen und "keinerlei Eigeninteresse" bei Meads oder konkurrierenden Systemen verfolgen dürfe. Inzwischen liegt auch das Angebot von MBDA an das Verteidigungsministerium vor: Demnach dürfte die Fertigentwicklung und Beschaffung von Meads mehrere Milliarden Euro teurer werden als geplant.