Momentan geht ein merkwürdiger Riss durch Europa. Die Wirtschaft der Eurozone wächst mit einer jährlichen Rate von mehr als zwei Prozent, so schnell wie seit mehr als sechs Jahren nicht mehr - und sie wächst schneller als die USA. Jedes Land in der Eurozone verzeichnet Wachstum, und das über alle Sektoren hinweg. Die jüngsten Umfragen zeigen eine deutliche Steigerung der Produktions- und Dienstleistungsaktivitäten, volle Auftragsbücher und Optimismus in der Wirtschaft. Erstmals seit 2012 wächst die französische Produktion sogar stärker als die Deutsche. Zugleich liegt die Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem höchsten Stand seit fast einem Jahrzehnt und die Arbeitslosenquote ist in der gesamten Eurozone in einem Jahr um einen vollen Prozentpunkt auf 9,6 Prozent gefallen – auf den niedrigsten Stand seit 2009.
Doch diese positiven Wirtschaftsnachrichten stehen im krassen Gegensatz zu dem tiefen Unwohlsein der politischen Klasse in Europa. Ein Unwohlsein, das vielleicht tiefer ist als auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise in der Eurozone. Politiker und politische Entscheidungsträger leiden unter einer Vertrauenskrise in ihre Fähigkeiten, auf nationaler und europäischer Ebene wirksame Maßnahmen zu ergreifen – und das vor dem Hintergrund eines zunehmenden Populismus und Nationalismus.
Gleichzeitig gibt es akute Sorgen über den Druck von Außen auf Europa, nicht zuletzt von einer Trump-Regierung, die der Europäischen Union oft feindselig gegenübersteht. Viele befürchten, dass die Kräfte, die Europa auseinanderziehen, stärker sind als diejenigen, die sie zusammenhalten. Und dass Politiker immer machtloser werden, diesen Prozess zu stoppen.
Reicht die Feuerkraft der EZB?
Vielleicht wissen Unternehmen und Haushalte als treibende Kräfte des Wachstums etwas, das den nervösen Politikern und politischen Entscheidungsträgern entgangen ist. Schließlich hat die Rückkehr des breit angelegten Wachstums etwas beseitigt, das bis vor kurzem als eines der größten Risiken der Eurozone galt: ein Abgleiten in eine deflationäre Schuldenfalle mit einer Europäischen Zentralbank, der die Munition ausgegangen ist.
Im letzten Quartals 2016 gab es eine Debatte darüber, ob die Feuerkraft der EZB ausreicht, um die Inflation auf ihr Ziel von knapp unter zwei Prozent zurückzubringen. Als die EZB im Dezember den monatlichen Umfang ihrer Anleihekäufe reduzierte und sich nicht damit durchsetzen konnte, das Universum der für einen Ankauf infrage kommenden Anleihen erheblich zu erweitern, wurde das weithin als Niederlage Frankfurts gegenüber Berlin gesehen. Es macht die Eurozone anfällig für künftige Schocks.
Doch jetzt dreht sich die Debatte darum, wie schnell die EZB ihr Anleihenkaufprogramm zurückfahren und wann sie die Zinsen erhöhen wird. An den Finanzmärkten fragt man sich neuerdings besorgt, welche Auswirkungen das Ende der quantitativen Lockerung auf die Fremdkapitalkosten einiger südeuropäischer Länder einschließlich Italiens und Portugals haben könnte. Doch die Angst vor einer neuen Schuldenkrise scheint bestenfalls verfrüht zu sein. Die Kerninflation bleibt nach wie vor deutlich unter dem Ziel der EZB, auch wenn die gesamte Teuerungsrate gestiegen ist, was weitgehend auf den Anstieg der Energiepreise zurückgeht.
Die EZB ist verpflichtet, bis zum Jahresende 2017 weiterhin Anleihen zu kaufen, und auch dann wird sie ihr Kaufprogramm nur einschränken, wenn die Erholung der Eurozone sehr robust ist. Das deutet darauf hin, dass die Kosten für die Aufnahme von Krediten voraussichtlich niedrig bleiben werden, so können die Regierungen weiterhin Schulden zu sehr niedrigen Zinsen refinanzieren.
Politische Risiken sind überschaubar
Was die politischen Risiken anbelangt, die in diesem Jahr die Debatte über die Eurozone beherrschen, so bleiben sie sehr real - wenn auch mit geringem Wahrscheinlichkeitsrisiko. Tatsächlich wurde eines der unmittelbaren Risiken in dieser Woche nach einem Treffen in Brüssel am Montag entschärft. Es sieht so aus, dass der monatelange Stillstand zwischen Athen, Berlin und dem Internationalen Währungsfonds in den Verhandlungen über die nächste Etappe des griechischen Rettungsprogramms überwunden werden kann. Ein Top-Beamter sagt jetzt, er sei zuversichtlich, dass ein Deal erreicht werden kann, bevor Griechenland unter erneuten Finanzierungsdruck gerät. Das habe er vor einer Woche noch nicht geglaubt.
Zugleich bleibt ein Sieg der Populisten oder Rechtsextremen trotz guter Umfrageergebnisse bei den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich unwahrscheinlich. Und in Italien schwinden mit der wachsenden Spaltung der regierenden Demokratischen Partei die Aussichten auf einen Urnengang.
Politische Risiken können allerdings auf in beide Richtungen funktionieren. Ein wichtiger Grund für die Handlungsunfähigkeit der Eurozone ist wohl, dass ihre Regierungen seit mindestens zwei Jahren über die diesjährigen Wahlen nachdenken. Als die Risiken auftauchten, konnten es sich die politischen Verantwortlichen nicht leisten, neue Wege einzuschlagen, um gemeinsam an der Lösung gemeinsamer Probleme zu arbeiten, sagt ein Top-Entscheidungsträger. Gleichzeitig bietet die politische Stabilität die besten Aussichten für die Art ehrgeiziger Strukturreformen, die in vielen Ländern der Eurozone erforderlich sind. Der Beginn eines neuen politischen Zyklus nach den diesjährigen Wahlen – verbunden mit Regierungswechseln – könnte zu einer effektiveren Entscheidungsfindung führen.
Viel Lärm, wenig Action
Was ist mit den außenpolitischen Risiken für die Eurozone – insbesondere aus den USA? Bisher ist trotz der verbreiteten Nervosität auf dem Kontinent nicht klar, was die Trump-Regierung für Europa bedeutet. In wirtschaftlicher Hinsicht gibt es Aspekte der Trump-Agenda, die für Europa positiv sein könnten, insbesondere wenn niedrigere Steuern und Deregulierung das globale Wachstum ankurbeln. Die US-Forderung an die Adresse der EU-Regierungen, ihre Militärausgaben zu steigern, könnte zu zusätzlichen steuerlichen Anreizen führen. Weit weniger willkommen wären Signale für eine protektionistische Politik aus den USA. Oder wenn die Trump-Administration einen schädlichen Riss im globalen Finanzsystem riskiert, falls sie bei der geplanten Deregulierung des Finanzsystems auch die Eigenkapitalregeln für die Banken wieder lockert.
Aber bis jetzt gab es viel Lärm, aber wenig Action. Unternehmen könnten Recht behalten, wenn sie darauf wetten, dass es so bleiben wird.
Copyright The Wall Street Journal 2017