
Sie kennen vermutlich den Spruch: was nicht passt, wird passend gemacht. Ich musste daran denken, als ich in dieser Woche einmal kurz dem Satz des 2015 verstorbenen Ex-Bundeskanzlers Helmut Schmidt nachrecherchierte, laut dem ihm fünf Prozent Inflation lieber sind als fünf Prozent Arbeitslosigkeit. Wie bei vielen anderen kursierenden Bonmots entpuppte sich dieses Zitat als Verdrehung des Originals in Richtung einer plausibleren Version. Denn Schmidt sprach anfangs nicht davon, was ihm lieber sei. Vielmehr sprach er davon, was seiner Ansicht nach die Deutschen eher vertragen könnten. „Mir scheint, dass das deutsche Volk – zugespitzt – fünf Prozent Preisanstieg eher vertragen kann als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“, erklärte er 1972 in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“.
Nun müsste es einen gerade in der aktuellen Debatte über den Anstieg der Inflation stutzig machen, wenn das ökonomisch-moralische Gewissen des Landes schon 1972 diagnostiziert hat, das deutsche Volk „vertrage“ auch fünf Prozent Inflation. Das war schließlich gerade einmal ein Vierteljahrhundert nach der letzten Hyperinflation in Deutschland. Und bekommen wir nicht laufend eingeredet, die Deutschen und die Inflation, das sei ein ganz spezielles Verhältnis? Dass uns die Hyperinflationen der 20er und 40er-Jahre so stark geprägt hätten in der Geldanlage? Dass die Angst vor der Inflation hierzulande doch deutlich stärker ausgeprägt sei als in südeuropäischen Ländern, wo man historisch ein eher laxes Verhältnis zum Thema Teuerung habe?
Nur ist Plausibilität leider kein Beleg. Denn Helmut Schmidt hatte Recht. Von der großen Bedeutung der Inflationsangst in der Geldanlage kann schließlich keine Rede sein. Niemand wird bestreiten, dass die Hyperinflationen gesellschaftliche und wirtschaftliche Zäsuren waren. Aber wenn die Deutschen an sich angeblich solche Inflationsängstler sind - wieso besitzen dann hierzulande nur rund 45 Prozent der Menschen ein Eigenheim, verglichen mit 70 Prozent europaweit?
Inflation gehört nicht zu den große Sorgen der Deutschen
Wieso haben die Deutschen dann 40 Prozent ihres Geldvermögens von zusammen 5400 Mrd. Euro in Bargeld und Sparbüchern angelegt, die - wie schon 1923 und 1946 - im Falle ausufernder Inflation am stärksten von der Entwertung betroffen wären? Wieso beträgt der Anteil realer, mithin also inflationsgeschützter Werte wie etwa Aktien am Geldvermögen näherungsweise gerade einmal 15 Prozent? Da passt etwas nicht zusammen, denn wenn die Hyperinflationen solche prägenden Schocks gewesen wären, zögen sie entsprechende Verhaltensänderungen nach sich.
Ein Blick in die regelmäßigen Befragungen der Europäischen Kommission unter allen EU-Mitgliedsstaaten liefert auf diese Fragen Antworten: weil man sich hierzulande nicht mehr, sondern weniger Gedanken über die Inflation macht als in anderen europäischen Ländern - was vermutlich auch ein Verdienst der jahrzehntelang stabilitätsorientierten Geldpolitik ist. So nannten in der letzten Befragung (sie stammt allerdings aus dem November 2016) lediglich acht Prozent der EU-Bürger die Inflation als eines der beiden wichtigsten Probleme der EU - in Deutschland nur vier Prozent. Einwanderung, Terrorismus, Arbeitslosigkeit, Kriminalität wurden häufiger genannt.
Auf nationaler Ebene das gleiche Bild: obwohl auch europaweit nur 15 Prozent die Inflation und steigende Lebenshaltungskosten zu den wichtigsten Problemen ihres jeweiligen Landes zählten, waren es in Deutschland sogar nur acht Prozent.
Inflationsrate Eurozone
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Basiseffekt durch steigende Energiepreise
Interessant wird es auf der persönlichen Ebene. Denn während Sorgen vor Zuwanderung, Terrorismus, Kriminalität eher abstrakt sind, war die Inflation tatsächlich europaweit das am häufigsten genannte persönliche Problem, dem sich die Befragten gegenüber sehen. 28 Prozent der EU-Bürger sehen demnach steigende Preise und Lebenshaltungskosten als jenes Problem, von dem man persönlich derzeit am meisten betroffen sei. Und auch hier fällt die Angst in Deutschland unterdurchschnittlich aus: lediglich 19 Prozent nennen hier die Inflation als wichtigstes persönliches Problem - in Spanien, Italien, Frankreich macht man sich dazu, trotz niedrigerer Teuerungsraten, auf persönlicher Ebene mehr Sorgen.
Nun mögen Kritiker einwenden, dass es eher ein Warnsignal sei, wenn die Inflation eben nicht als Problem wahrgenommen wird. Da ist auch etwas dran. Wir haben uns daher bei Capital entschieden, der Inflation eine große, analytische Titelgeschichte (s. Capital 3/2017, die am 16.2. erscheint) zu widmen. Zumal das Thema auch unter Ökonomen polarisiert: Ich habe in den vergangenen zwei Wochen rund zwei Dutzend Ökonomen und Fondsmanager zu ihrem Ausblick auf die Inflation befragt. Die typische These, dass man von fünf Ökonomen sechs Prognosen erhalte, hat sich dabei nicht bewahrheitet.
Stattdessen waren die Linien relativ deutlich: die Mehrzahl - ich würde sagen, etwa drei Viertel - sieht im jüngsten Inflationsanstieg auf wieder fast zwei Prozent lediglich einen Basiseffekt durch steigende Energiepreise. Im Sommer sei der Spuk schon wieder vorbei. Ihr Hauptargument: die Eurozone leide unter einer strukturell hohen Arbeitslosigkeit, weise eine für das Wachstum nachteilige Demografie auf, verschleppe Reformen. Und wenn schon der sehr schwache Euro, der stark gestiegene Ölpreis und das massive Aufkaufprogramm für Staatsanleihen keinen echten Teuerungsschub brächten - wie sähe denn die Inflation aus, wenn diese unterstützenden Faktoren wegfielen? In diesem Umfeld könne nun mal keine echte Inflation aufkommen, zumal wirtschaftliche oder politische Schocks - etwa bei Wahlen - eher preisdämpfend wirken.
Wer hat Recht?
Es gibt freilich auch eine kleine Gruppe von Ökonomen, die das ganz anders sieht. Auch sie haben plausible Gründe, vor allem, wenn sie den Blick auf Deutschland verengen. Schließlich sind für Deutsche auch deutsche Preise relevant, während die Europäische Zentralbank für die ganze Eurozone ihre (lockere) Geldpolitik macht. Laut diesen „Mahnern“ steigen eben nicht nur die Energiepreise, sondern zuletzt die Preise von knapp zwei Dritteln des Warenkorbs.
Sie verweisen auf starke konjunkturelle Frühindikatoren der Eurozone, die auf eine Expansion der Wirtschaft 2017 deuten, den Aufschwung in der Baubranche - und darauf, dass wir ermüdet und unaufmerksam wären, weil die Inflation am Ende doch oft die Erwartungen unterschossen habe. Dass die US-Wirtschaft vielleicht sogar um vier oder mehr Prozent wachsen könne und den Rest der Welt mitziehen könne. Und auch darauf, dass für die deutsche Inflationsrate die Wohnpreise von besonderer Bedeutung seien - und es keinerlei Anzeichen dafür gäbe, dass der Anstieg der Kauf- und Mietpreise (der, erstaunlicherweise, in den vergangenen Jahren im Vergleich zum Rest der Eurozone unterdurchschnittlich ausfiel) bald enden würde.
Wer hat Recht? Ich ziehe es vor, die Prüfung der Argumente Ihnen zu überlassen, anstatt thesenstark eine Denkrichtung vorzugeben. Und empfehle Ihnen nicht nur unsere kommende Ausgabe von Capital, sondern auch ein kritisches Innehalten, wenn Ihnen mal wieder jemand erzählt, Deutschland habe eine Sonderrolle in Sachen Inflation. Die haben wir tatsächlich: In Sachen Geldanlage und Vermögensbildung sind die privaten Haushalte hierzulande trotz der Erfahrung der Vergangenheit mehrheitlich schlechter für einen Inflationsschub gerüstet als unsere europäischen Nachbarn. Ganz egal, ob es sich bei der aktuellen Entwicklung nur um eine Normalisierung der Inflation handelt oder gar mehr.
Christian Kirchner ist Frankfurt-Korrespondent von Capital. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Geldanlagethemen. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen
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