Wer die Nachrichten aus dem Automobilsektor verfolgt, könnte zu dem Schluss kommen, die Technik fürs autonome Fahren stehe kurz vor dem Durchbruch. Der Fahrdienst Uber bietet den Bürgern von Pittsburgh Trips in selbst fahrenden Fords an. BMW, Volvo, Lyft und Ford selbst kündigen voll autonome Fahrzeuge für das Jahr 2021 an – oder sogar für einen noch früheren Zeitpunkt. Und Tesla-Chef Elon Musk, stets der Meister der Übertreibung, spricht von 24 Monaten.
Die meisten Insider der Branche sehen in derlei Gerede allerdings vor allem eins: einen gewaltigen Hype. Die Ankündigungen sind nicht wirklich falsch. Aber die Propheten der Industrie erwecken einen falschen Eindruck, indem sie Begriffe wie „autonomes Fahrzeug“ oder „selbstfahrend“ missbrauchen. Es klingt als würden wir bald ins Auto springen, das Ziel eingeben und für den Rest der Fahrt schlafen, essen oder uns unserem Smartphone widmen können. Das aber wird 2021 mit Sicherheit noch nicht möglich sein. Bis dahin wird es noch lange dauern, vielleicht sogar Jahrzehnte.
„Wer so etwas verkündet, der spricht nicht von der Realität, sondern von dem, was er sich wünscht“, sagt Raj Rajkumar, Professor für Ingenieurwesen an der Carnegie Mellon University, die mit General Motors zusammenarbeitet. „Die Technik ist einfach noch nicht so weit. Es muss noch sehr viel passieren, bis wir keinen Fahrer mehr brauchen.“
Rajkumar ist nur einer von vielen Skeptikern. „Ein voll autonomes Auto arbeitet eigenständig, egal unter welchen Bedingungen. Punkt“, sagt Mary Cummings, die an der Duke University Elektrotechniker und Computeringenieure ausbildet. „Und davon sind wir mindestens 15 oder 20 Jahre entfernt.“
Alles hängt von der Definition ab
Besonders schwer wiegt die Einschätzung von Chris Urmson. Er leitete das Projekt für autonomes Fahren bei Google für mehr als sieben Jahre, bevor er das Unternehmen im August verließ – und er kennt das Thema besser als die meisten anderen. Schon im vergangenen März sagte Urmson auf einer Konferenz, die Technologie für autonomes Fahren werde von einigen wenigen Menschen bereits in einigen Jahren genutzt werden – für den großen Rest allerdings erst in etwa 30. Gemeint war: Für einige klar definierte Einsatzbereiche ist es schon bald denkbar. Bis die Technik aber den Status eines vollwertigen Ersatzes für einen menschlichen Fahrer erreicht, wird noch viel Zeit ins Land gehen.
Alles hängt eben davon ab, wie man „autonom“ und „selbstfahrend“ definiert. „Ich weise immer darauf hin, dass es fahrerlose Fortbewegungsmittel zwischen den Terminals von Flughäfen schon seit 40 Jahren gibt“, sagt Steven Shladover, der ein Programm für Transporttechnologie an der University of California leitet. „Aber die bewegen sich eben in einem sehr speziellen, geschützten Bereich.“
In den Visionen der Autobauer spiegelt sich dieses Problem. Ford hat zwar ein selbstfahrendes Auto für das Jahr 2021 angekündigt. Wenn man sich allerdings mit den Details vertraut macht und die Presseberichte genau liest, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Da gibt ein Ford-Sprecher dann zu, dass dieses Auto nur in jenen Teilen einer Großstadt autonom wird fahren können, wo das Unternehmen extrem detaillierte 3D-Straßenkarten bereitstellen und zudem regelmäßig aktualisieren kann. Wie groß diese Gebiete sein wird, sagt das Unternehmen nicht.
Googles Begeisterung hat nachgelassen
Auch der Mitfahrdienst Lyft, der mit GM zusammenarbeitet will bis 2021 ein voll autonomes Fahrzeug vorstellen. Was das genau bedeutet, erklärt Mitgründer John Zimmer. Die fraglichen Fahrzeuge werden nur in einem kleinen Gebiet herumfahren dürfen und das auch nicht schneller als 40 Stundenkilometer.
Ähnliche Einschränkungen gelten auch für Volvo und die israelische Tech-Firma Mobileye, die mit ihrer Technologie für selbstfahrende Autos unter anderem mit BMW und Volkswagen kooperiert. Erik Coelingh, der bei Volvo das Projekt Autonomes Fahren technisch betreut, macht klar, dass die Autos des Unternehmens einen Wechsel in den Selbstfahrmodus schlicht verweigern könnten, wenn das Kartenmaterial nicht ausreicht. Wenn schlechtes Wetter die Sensoren des Systems behindert, könnten die Autos sogar an den Rand fahren oder einfach anhalten. Ein etwas beunruhigender Gedanke – und ein weiterer Grund, warum die frühen „voll autonomen“ Fahrzeuge von echten Menschen scharf überwacht werden müssen.
Ausgerechnet Google, also der Konzern, der wohl die größten Erfahrungen mit der Technik gesammelt hat, äußert sich mittlerweile von allen am zurückhaltendsten. Ein festes Datum für den Start seiner autonomen Fahrzeuge gibt es noch nicht, auch wenn erste Tests in Minivans von Fiat Chrysler schon geplant sind.
In naher Zukunft werden „selbstfahrende“ Autos ungefähr das beherrschen, was heute Tesla anbietet: also eine Fahrkontrollfunktion, die den Verkehr der Umgebung berücksichtigt. Es kann dann ein fester Abstand zum vorausfahrenden Auto eingehalten werden, zudem sind automatische Spurwechsel denkbar und eine Art Notbremse. In einem nächsten Schritt werden wir Autos erleben, die keinen Fahrer mehr brauchen aber nur in sehr eingeschränkten, ausführlich kartografierten Gebieten unterwegs sein können. Zum Beispiel vom Flughafen zum Las Vegas Strip.
Die Technik kommt - nur wann?
Autos aber, die alleine wirklich überall hin fahren können, das ist etwas, was erst in ferner Zukunft möglich wird. Darin sind sich die meisten Experten einig.
Wie bei fast jedem Thema gibt es natürlich auch Gegenstimmen. Nach Ansicht von Mobileye-Gründer Amnon Shashua ist das Problem der Sensoren und Kontrollmechanismen in autonomen Fahrzeugen weitgehend gelöst. Um das System zu perfektionieren, bedürfe es keines wissenschaftlichen Durchbruchs, sondern lediglich vieler kleiner Software-Verbesserungen, bei denen man sich auf das Fahrverhalten echter Menschen stütze. „Die Zutaten sind alle da. Jetzt kommt es nur darauf an, dass Ingenieure das alles zusammenrühren“, sagt Shashua.
Selbst die Skeptiker sind sich ja sicher, dass die Technik eines Tages kommt, viele Menschenleben retten wird und letztlich in fast jedem Auto verfügbar ist. Aber sicher nicht schon im Jahr 2021.
Copyright The Wall Street Journal 2016