Capital: Herr Erbe, wie geht es der deutschen Wirtschaft?
CHRISTIAN O. ERBE: Die Stimmung ist schlecht, erstaunlich schlecht. Im Mittelstand ist sie derzeit so schlecht wie noch nie in meinem Berufsleben.
Warum?
Die Unternehmen fühlen sich von der Politik alleingelassen, nicht ernst genommen. Dass dem Kanzler dazu nur einfällt, die Klage sei das Lied des Kaufmanns, hat viele ins Mark getroffen. Das zeigt, was er für eine Wertschätzung für die Wirtschaft hat. Die Maßnahmen gegen die Rezession, die jetzt eingeleitet werden, sind halbherzig. Die Politik stellt für uns Unternehmen momentan einen Negativfaktor und ein Risiko dar. So etwas habe ich noch nicht erlebt.
Was sind Ihre größten Sorgen?
Vor allem der demographische Wandel und der dadurch entstehende Mangel an Fachkräften. Aber auch die Energiekosten sind nach wie vor ein Thema. Die Rahmenbedingungen, insbesondere das Steuersystem. Und natürlich die Bürokratisierung. Das Problem wird immer dringender.
Haben Sie da ein Beispiel?
Nehmen Sie Forschung und Entwicklung. Da sind wir in Deutschland, erst recht im Südwesten, führend. Wir haben ja nur unser Hirn als Ressource. Aber die Förderprogramme, die es von der EU und vom Bund dafür gibt, sind mit immensem Bürokratieaufwand verbunden, sodass das viele Unternehmen abschreckt. Die nehmen die Programme dann lieber nicht in Anspruch, weil sie sagen: Ich habe niemanden, der diese Papierlast bewältigen kann.
Und die Unternehmen ziehen Konsequenzen?
Ja, ich sehe viele Unternehmen, die jetzt tatsächlich ins Ausland gehen. Es wurde ja schon oft drüber geredet, aber jetzt passiert es auch. Und da wird mit größerer Abwanderung auch noch zu rechnen sein.
Wohin gehen die Firmen?
Es geht nach Tschechien, Rumänien, nach China und andere südostasiatische Länder und in die USA. Betroffen ist die Fertigung, aber zunehmend auch die Entwicklung, weil wir hierzulande einen immer schlechteren Zugang zu gut ausgebildeten Ingenieuren haben. Wir als Firma überlegen auch, unseren Standort in Indien zum Entwicklungsstandort auszubauen.
Im Frühjahr haben Sie im schwäbischen Rangendingen ein 90 Mio. Euro teures neues Werk eröffnet. Die Entscheidung dafür fiel schon vor einigen Jahren. Hätten Sie sie heute genauso getroffen?
Nicht unbedingt. Wir mussten unseren Produktionsstandort vergrößern und haben dafür eine vorhandene Freifläche verwendet. Das war auch eine richtige und gute Entscheidung. Aber wenn wir heute nochmal eine große Expansion planen würden, wäre die Frage, ob man tatsächlich alles auf einem Standort konzentriert oder nicht lieber Risiken verteilen sollte, auch aus politischen Gründen.
Was meinen Sie damit?
Damit meine ich nicht nur die Rahmenbedingungen in Deutschland, sondern auch die in vielen anderen Ländern, wo die Märkte zunehmend durch Regierungseingriffe beeinflusst werden. Ein Beispiel: In öffentlichen Krankenhäusern in China liegt der Fokus immer mehr auf Produkten, die in China hergestellt sein müssen. Für uns heißt das: Wir sind nun gezwungen, neben unserer Produktion für Einweginstrumente, die gerade im Aufbau ist, auch Investitionsgüter wie Chirurgieanlagen dort zu fertigen. Nicht weil wir das wollen, sondern weil wir es müssen. Wissen Sie, in China wurde die Medizintechnikbranche zum strategischen Schlüsselfeld erkoren, das man mit 50 Mrd. Dollar fördert. Ich war vor einiger Zeit im Bundeswissenschaftsministerium, wo mir stolz verkündet wurde, es gebe ja jetzt ein Förderprogramm für Medizintechnik über 50 Mio. Euro, da müsste ich doch froh und dankbar sein. War ich auch. Nur wenn man das mit China vergleicht – da ist ein gewisses Delta dazwischen.
Wie ist die Lage in anderen Ländern?
In Indien wird wahrscheinlich ähnliches passieren. Und auch in den USA, egal wer im November die Präsidentenwahl gewinnt, wird es mehr abschottende Maßnahmen geben. Da werden wir wahrscheinlich dann in den USA produzieren müssen, und auch das stellt letztlich eine Abwanderung von Produktionsanlagen aus Deutschland dar.
Sie sprachen vorhin vom Fachkräftemangel als dem vielleicht drängendsten Problem. Wie groß ist das Problem für Sie?
Damit Sie ein Gefühl dafür kriegen: Wir sind knapp 2000 Mitarbeiter und schaffen pro Jahr 100 neue Arbeitsplätze. Trotzdem haben wir gegenwärtig 100 offene Stellen. Durch den Fachkräftemangel gelingt es uns nicht mehr, unser Wachstum abzubilden. Der Mangel an Personal ist ein Wachstumshemmnis und damit auch ein Geschäftsrisiko.
Die Ampel-Regierung hat dagegen ja ein Fachkräfte-Einwanderungsgesetz verabschiedet. Merken Sie davon etwas?
Das Gesetz ist eine ganz tolle Sache. Nur darf man das nicht überbewerten. Das ist eine Maßnahme von vielen notwendigen Maßnahmen: Man muss die Fachkräfte vor Ort ansprechen. Die Visumserteilung muss noch schneller werden – teilweise warten wir da ein oder zwei Jahre. Da stehen wir uns noch selbst im Weg.
Wie beurteilen Sie die Wirtschaftspolitik der Ampel sonst?
Was ich bisher nicht gesehen habe, ist eine Strategie. Bei mir im Unternehmen ist das das wichtigste. Daran orientieren wir unsere Entscheidungen. Wenn ich keine Strategie habe, wie will ich da Maßnahmen definieren und umsetzen und ihre Wirkung überprüfen?
Aber es wird doch durchaus strategische Wirtschaftspolitik betrieben, etwa mit dem klimaneutralen Umbau der Energieversorgung oder dem Aufbau einer unabhängigeren Chipproduktion.
Aber diese Vorhaben sind ja nicht strategisch entstanden, sondern aus Not und Notwendigkeit. Das ist alles nur situationsbezogen – da stellen wir fest, dass die Russen uns bald das Gas abdrehen, also müssen wir nachbessern. Das ist aber keine Strategie: Da wird reagiert, nicht agiert.
Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass sich im letzten Regierungsjahr der Ampel die Lage bessert?
Zunächst einmal hoffe ich, dass die Regierung bis zum Ende der Legislaturperiode zusammenhält. Ich würde es für äußerst schlecht erachten, wenn die Regierung auseinanderbräche. Was bei Wahlen in der jetzigen Zeit passieren kann, das haben wir ja in Sachsen und Thüringen gesehen. Aber dass sich groß etwas ändern wird, diese Hoffnung habe ich nicht. In einem halben Jahr beginnt der Wahlkampf – auf uns wartet eher ein Jahr des Stillstandes.