Sven Gábor Jánszky ist Zukunftsforscher und Direktor des „2b AHEAD ThinkTanks“. Auf seine Einladung treffen sich seit zwölf Jahren 250 CEOs und Innovationschefs der deutschen Wirtschaft und entwerfen Zukunftsszenarien und Strategieempfehlungen. Sein neues Buch „Das Recruiting Dilemma“ befasst sich mit dem Wandel der Führungsstrategien in der kommenden Ära der Vollbeschäftigung.
Es war auf der großen Bühne des Telekom-Auditoriums als einer der langjährigen Sparringspartner meines „2b Ahead Thinktanks“ einen seiner denkwürdigsten Auftritte hatte. Fünf Minuten hatte Stefan Bungart bekommen, um auf der großen Bühne bei der alljährlichen Kickoff-Versammlung der weltweit wichtigsten Telekom-Führungskräfte seine Botschaft zu verkünden. Er war kaum fertig, da sprangen seine 1000 Zuhörer von den Sitzen. Sie klatschten und jubelten. Rene Obermann, damals noch Vorstandsvorsitzender, sprang auf die Bühne und rief in die tobende Menge, dass Bungart, falls aus seiner Telekom-Karriere als Senior Vice President für New Services nichts werden sollte, immer noch Komiker werden könne. An das Get together danach erinnert sich Bungart heute noch. „500 Leute kamen auf mich zu und bedankten sich, weil ich ihnen aus dem Herzen gesprochen hatte.“
Was war geschehen? Bungart hatte sich Gedanken gemacht, wie er seine „Fünf-Minuten-mit Rene-in-der-Sonne“ nutzen könnte. Er hatte sich entschieden, den klügsten Köpfen des Telekom-Imperiums einen Spiegel vorzuhalten. Er sei ja neu hier, hatte er begonnen. Und seine erste Feststellung im Telekom-Kosmos sei gewesen: „Ihr wisst ja alles! Ihr habt ja das Gedächtnis eines Elefanten!“. Da waren sie noch still gewesen. „Ich kann mit Euch kein Gespräch anfangen, ohne dass jemand von Euch sagt, dass dieser Gedanke schon probiert wurde oder dass da schon 20 Leute dran arbeiten.“ Der prägende Satz seiner ersten Monate im Konzern sei gewesen. „Das haben wir alles schon gehabt.“ Da hätte man ihm auch gleich sagen können: „Leg Dich wieder hin!“
Bungart hatte auf der Bühne eine Pause gemacht. Er ließ wertvolle Sekunden seiner exakt limitierten fünf Minuten verstreichen: „Wir haben ein Problem,“ sagte er schließlich. „Unser Problem ist, dass wir nicht verstanden haben, dass die Qualität einer Idee immer von ihrem Umfeld abhängt. Und das Umfeld verändert sich in diesen Zeiten rasant. Eine Führungskraft die also heute denkt, sie könne über eine Idee mit einer Analyse urteilen, die sie vor fünf Monaten gemacht hat, die hat ihren Job nicht verstanden.“ Bungarts Analyse war simpel: „Wir sind absolute Profis im Erinnern. Aber wir sind laienhafte Amateure im Vergessen.“ Seine Abschlussbotschaft fasste er in drei Worte: „Learn to unlearn!“
Es geschah was in großen Unternehmen immer geschieht: Bungart war noch gar nicht wieder im Büro, als seine geflügelten Worte schon durch den Flurfunk gewandert waren. In den nächsten Monaten gingen sie als Hype durch die magenta-farbenen Powerpoints. Wo immer ein Mitarbeiter sich traute darauf hinzuweisen, dass diese oder jene Idee schon mal verworfen worden war, war jene Führungskraft nicht weit, die ihm auf den Kopf zu rief: „Learn to unlearn!“ Nach einem halben Jahr allerdings legte sich die Euphorie. Wenn Sie Stefan Bungart heute fragen, was als Ergebnis herausgekommen ist, lautet die Antwort: „Nichts.“
Wann haben Sie Ihre Mitarbeiter zuletzt aufgefordert zu vergessen?
Aus meiner Sicht als Zukunftsforscher und Strategieberater ist das Vergessen die vermutlich am meisten unterschätzte Voraussetzung zur Innovation. In einer Welt der omnipräsenten Erinnerung, inmitten prozessgetriebener Innovation und allzeit transparenten Wissensmanagements ist das Vergessen überkommener Regeln und das Verdrängen alter Gewohnheiten die Grundvoraussetzung für starke Innovationen. Unternehmen müssen vergessen.
Doch wie sieht die Realität aus? Ich treffe oft auf Vorstände und Strategiekreise, denen ich meinen Vorschlag, eine gezielte Kultur und Struktur des Vergessens einzuführen, nicht lange erklären muss. Nach anfänglicher Überraschung sind sie meist schnell überzeugt. Denn wer nicht schnell genug vergisst, misst den überkommenen Regeln alter Systeme mehr Bedeutung bei als sie haben. In Branchen, die mit der Dynamik neuer Technologien und Geschäftsmodelle konfrontiert werden, kann dies für Unternehmen tödlich sein. Todesursache: zu langsam vergessen. Doch dann kommt das Problem: Selbst wenn der Vorstand bereit ist: Seine Mitarbeiter vergessen nicht. Deshalb ist die meistgestellte Frage an mich und meine Consultants: Gibt es einen Weg, auch in Konzernen die Regeln vergessen zu lassen? Welche Reset-Strategien lassen sich in Unternehmen anwenden? Können wir das Vergessen lernen?
Kann ein Unternehmen vergessen?
Wenn Sie diese Frage an Stefan Bungart stellen, dann wird Sie seine Antwort vielleicht überraschen. Sie lautet: „Es gibt kein Unternehmen! Ein Unternehmen ist nur die Summe aus Menschen und Regeln.“ Er hat Recht! Denn Innovation ist nicht technokratisch. Sie ist kein Naturgesetz. Sie entsteht, wenn Menschen in einer bestimmten Weise handeln. Und diese Menschen folgen ihren individuellen Intentionen, Zielen, Ängsten und Hoffnungen. Wenn es um Innovation geht, ist also jedes Unternehmen nur eine Ansammlung von Menschen, von denen jeder Dinge mit eigenen Zielen tut. Idealerweise ist die Schnittmenge der individuellen Ziele der verschiedenen Mitarbeiter hoch. Noch besser ist es, wenn diese Schnittmenge auch noch dem Ziel der Gesellschafter oder Aktionäre entspricht.
Neben diesen Mitarbeitern wird ein Unternehmen noch von seinen Regeln geprägt. In denen ist festgeschrieben, was die Mitarbeiter in der Vergangenheit mal gelernt haben. Natürlich waren damals das Umfeld, das Zukunftsbild, die gemeinsamen Ziele … also die Gründe für das Zustandekommen der Regeln völlig anders. Aber einen regelmäßigen Re-Check, ob die Annahmen für bestehenden Regeln und Strategien noch stimmen, macht kaum ein Unternehmen.
Wer diese einfache Innovationsbotschaft ernst nimmt, wird als zukunftsbewusster Vorstand zwei Dinge versuchen zu verändern: Die individuellen Treiber seiner Mitarbeiter und die Regeln seines Unternehmens!
Greife Deine eigenen Regeln an!
Lassen Sie uns bei der Frage, wie das geht, selbst zum Regelbrecher werden. Vergessen wir kurz die gern gepflegte Lüge von Innovationsberatern, Innovation würde aus Innovationsprozessen entstehen. Mit „Stage Gate & Co.“ kann man als Innovationsberater lange, großes Geld verdienen, indem man seinen Kunden gigantische Ideenverwaltungsprozesse verordnet. Mit der Überwachung dieser Verfahren können sie hunderte Menschen beschäftigen. Das führt zu neuen Aufgaben für junge, dynamische Mitarbeiter, zu neuen Claims für Führungskräfte und neuen Mandaten für Berater. Nur zu einem führt es nicht: zu Innovationen.
Lassen Sie uns lieber von Menschen lernen, deren täglich Brot es ist, andere Menschen dazu zu bringen, bisherige Regeln zu vergessen. Einer, der dieses Denken perfektionierte, ist Thomas Tuchel. Als völliger No-Name wurde er zum Bundesligatrainer bei Mainz 05. Seine erste Aufgabe: Binnen weniger Tage musste er seine hochbezahlten Profis alles vergessen lassen, was sie bisher über ihr Spielsystem, ihre Strategie und Taktik wussten. Tuchel sagt: „Die Grundregel in der Bundesliga war damals: ‚Man muss sich für ein Spielsystem entscheiden. Dieses muss man perfektionieren. Und wenn es dann irgendwann automatisiert ist, dann wird man immer besser.“ Jeder Trainer, jeder Experte, jeder Fernsehkommentator hat das damals geglaubt. Auch jeder Profi von Mainz 05.
Tuchels Lösung: Mainz 05 spielte zwei erfolgreiche Saisons lang ohne ein eigenes Spielsystem. Stattdessen schaute sich die Mannschaft vor jedem Spiel jeweils das Spielsystem des kommenden Gegners an und spiegelte es. Auf diese Wiese schaffte es Tuchel, dass sich seine Profis in die Denkmuster der Gegner hineindachten, und auf dem Platz intuitiv richtig verteidigten. Die gegnerischen Trainer und ganz Fußballdeutschland fragten sich, welches System die denn nun spielen und warum sie von einem Spiel zum anderen ohne Not sechs Leute tauschen. Tuchel grinst: „Ich habe diese Kommentare gar nicht verstanden. Es war doch einfach nur die beste Aufstellung. Wir haben die ersten sieben Spiele der Saison gewonnen. Keiner hatte jemals mehr: Startrekord in der Bundesliga.“
Nimm mir die Chance, in alte Denkmuster zurückzufallen
Doch wer seinen Mitarbeitern die alten Muster nimmt, muss kontrollieren welche neuen Muster sie sich suchen. Tuchel erklärt das so: Sein Vorgänger hatte den Spielern beigebracht, den Ball nach der Eroberung immer schnell nach außen zu spielen und dann die Linie entlang nach vorn. Ein übliches Denkmuster unter Bundesligaprofis. Tuchel erkannte, dass diese Pässe aber jene waren, die besonders einfach vom Gegner erobert werden konnten. Also gab er die Devise aus: Alle Pässe diagonal!
Dass sich daran keiner halten würde, war Tuchel schon vor dem ersten Training klar. Was tat er: Er schnitt für das Training die Ecken des Spielfeldes ab: An der Mittellinie war es normal breit. Aber von der Mittellinie verliefen die Außenlinien direkt zu den Torpfosten. „Diamantenform,“ nennt er das. Ein Pass die Linie entlang? Unmöglich! Tuchel erklärt seine Anleitung zum Regelbruch in den Köpfen seiner Spieler so: „Ich will doch nicht derjenige sein, der bei jedem falschen Pass in die Trillerpfeife pfeift und schimpft. Das nutzt sich doch ab! Dann schneide ich lieber am Spielfeld die Ecke ab und nehme ihnen die Möglichkeit in ihre Alten Denkmuster zurückzufallen. Dann suchen sie sich automatisch neue Denkmuster. Und ich kann derjenige sein, der sie dabei unterstützt. Ich bin doch Coach, kein Überwacher!“
Was Tuchel auf dem Trainingsplatz praktizierte, sieht in Unternehmen ganz ähnlich aus. Genau aus diesem Grund finden die Führungskräfte-Coachings unseres Thinktanks an Orten stattfinden, an denen man mit normalen europäischen Management-Denkmustern nicht bestehen kann: Im verwinkelten Labyrinth der Medina von Marrakesch, während des Aufstiegs auf den Kilimandscharo oder im Powerdurchlauf durch die Innovationszentren des Silicon Valley.
Und auch Stefan Bungarts damalige Telekom hat es bei ihren erfolgreichen Innovationen ganz ähnlich gemacht. Als der damalige Telekom-Vorstand schaute sich den Widerstand seiner Führungskräfte gegen diesen neuartigen Mobilfunk („der sowieso nicht funktionieren wird“) einige Zeit an. Dann entschied er, die neue T-Mobile-Sparte in Bonn in ein separates Gebäude zu setzen, in dem die herkömmlichen Denkmuster nicht gelten. Seitdem gab es über viele Jahre in Bonn den Landgrabenweg als Demarkationslinie: Auf der einen Seite die Mobilfunker und auf der anderen Seite die Festnetzer, von denen nicht wenige auch heute noch überzeugt sind, dass das mit dem Mobilfunk keine gute Idee war.
Vergessen Sie als erstes Ihre Erfolge!
Wer beginnt, die Bedeutung des Vergessens für seine eigene Innovationskraft zu verstehen, der wird schnell an eine wichtige Frage kommen: Was soll ich als erstes vergessen? Seien Sie bitte vorsichtig bei dieser Frage. Denn die üblichen Ratgeber werden Ihnen sofort mit den üblichen Buzzwords kommen. Sie werden Ihnen raten, dass sie als erstes ihre Misserfolge vergessen oder ignorieren sollen. Legendär ist das Zitat der Basketball-Legende Michael Jordan: „Ich habe in meiner Karriere 900 Würfe daneben geworfen. Ich habe fast 300 Spiele verloren. 26 Mal wurde mir der alles entscheidende Wurf anvertraut … und ich habe ihn verfehlt. Ich habe immer und immer wieder versagt in meinem Leben und daher wurde ich so erfolgreich.“ Natürlich spricht einiges dafür: Misserfolge machen uns stärker. „Fail often, fail fast!“ heißt das Mantra der disruptiven Innovatoren im Silicon Valley.
Und doch möchte ich Ihnen das Gegenteil empfehlen: Vergessen Sie als erstes Ihre Erfolge! Oder wie Kell Ryan, einer der beiden Ryan-Air-Brüder, im 2b AHEAD ThinkTank sagte: „I want to work in a business, that doesn’t believe it’s own bullshit!” Damit weist er auf ein Lernen hin, das prägend ist für all die Innovationsprojekte, die ich in den vergangenen Jahren in vielen Branchen begleitet habe.
Die meisten dieser Unternehmen haben den größten Teil ihres Erfolges der Vergangenheit einer einzigen herausragenden Geschäftsidee und einigen günstigen Zufällen zu verdanken. Diese Idee funktionierte so gut, dass das Unternehmen zu einem marktprägenden Akteur im Massenmarkt wurde. Das ist großartig. Leider führt es aber dazu, dass die Regeln für die Bemessung künftiger Erfolge von diesem herausragenden Geschäftsmodell abgeleitet werden. Entsprechend sollen neue Innovationen schon im zweiten Jahr Gewinn abwerfen, entsprechend werden Kundengruppen in Millionenhöhe erwartet, entsprechend soll das Produkt schon vor Verkaufsstart jene Qualitätsmaßstäbe erfüllen, die das alte Produkt nach 20 Jahren erreicht hat. Was dabei vergessen wird: Hätte man diese Kriterien früher an das heute etablierte Erfolgsmodell angesetzt…es wäre gar nicht entstanden. Um echte Innovationen zuzulassen, müssen wir als erstes unsere Erfolge vergessen!
Auch Thomas Tuchel und seine ehemaligen Mainzer Spieler kennen diese Situation. Er sagt: „Es ist natürlich eine Ehre, dass man immer an den Highlights gemessen wird. Aber vor allem ist es ein schwerer Rucksack. Für echte Innovatoren halte ich es deshalb für am wichtigsten, den eigenen, früheren Erfolg zu vergessen.“ Recht hat er.