Wer ist der größte Wettbewerber von Netflix? Der Chef des Streamingdienstes, Reed Hastings, hat eine großartige und verstörende Antwort: der Schlaf . Diese sechs bis acht Stunden, in denen die Menschen (noch) keine Serie schauen.
Es sind solche Sätze, die uns gleichermaßen faszinieren und erschaudern lassen über die ungestüme Macht, mit der die neuen Technologien seit 20 Jahren in unser Leben dringen. Unaufhörlich, unermüdlich, sie bereichern uns und fressen uns auf, sie füllen den Alltag und schaffen neue Leere.
Vor fünf Jahren, als ich die Chefredaktion von Capital übernommen habe, habe ich die Wettbewerbsfrage klassisch beantwortet: andere Wirtschaftsmagazine, Tageszeitungen, Websites. Heute sage ich: Ich konkurriere vor allem um Aufmerksamkeit. In einem Leben, das vollgestopft ist mit Push-Nachrichten, Hashtags, Updates und Vibrationen in der Hosentasche, geht es vor allem darum, nicht unterbrochen und abgelenkt zu werden.
Anzugträger spielen „Candy Crush“
Ich sehe das morgens in der S-Bahn, wenn ich zum Potsdamer Platz in die Redaktion fahre: Ein paar Menschen noch lesen Zeitungen (und wenn sie am Anhalter Bahnhof aussteigen, merke ich: Ah, Kollegen vom „Tagesspiegel“); einige lesen sogar Bücher (die interessanteste Spezies! Wer bitte verkraftet morgens schon 800 Seiten Dan Brown?). Die Mehrheit aber hängt am Smartphone. Scannt Überschriften, Schnipsel, klickt, wischt, scrollt, klickt, wischt, scrollt. Manche schauen Youtube. Andere spielen. Tatsächlich, Männer im Anzug spielen „Doodle Jump“, „Plants vs. Zombies“ oder „Candy Crush“. Ich kritisiere das nicht, jeder kann in der S-Bahn machen, was er will. Auch meinetwegen Purzelbaum schlagen.
Ich sehe nur: Unser Leben ist voll von Ablenkung und oft leer von Inhalten geworden. Und mein Geschäft sind Inhalte, ich kann in diesem Tosen nur zwei Dinge bieten: Entschleunigung und Vertiefung. Selbst wenn Sie uns auf dem Smartphone lesen. Und ich muss Sie bei der Stange halten, auch genau jetzt, während Sie durch ein „Pling!“ hören, dass ein Freund auf Facebook einen Link kommentiert hat und ein Kollege zur Kontaktaufnahme auf LinkedIn lädt.
Es ist vielleicht dieses „Pling“, das unser Leben am meisten prägt, der Signalton, der uns neugierig und süchtig macht und von einer auf die andere Plattform ziehen will, wo wir die nächsten Schnipsel im Stakkato auf die schon kochende Festplatte unseres Hirnes brennen.
70 Prozent schauen fünf Folgen im Schnitt
An der Stelle also, an der Sie bei dem Satz von Netflix-Chef Reed Hastings doch zusammenzucken, kann ich andocken: Es ist der Punkt, an dem wir spüren, dass Technologie Grenzen haben wird und muss. Doch welche Grenzen? Ich denke, wir sind mitten dabei, es erstmals zu sortieren, nach zwanzig Jahren ungestümer Tech-Euphorie: Der Datenskandal um Facebook, der Streit um die Marktmacht von Amazon und Google, die um sich greifende Smartphone-Sucht von Teenagern – all dies wird seit einiger Zeit unter dem Schlagwort „Techlash“ (in Anlehnung an das englische „backlash“, also Rückschlag) diskutiert: Facebook erlebt längst seinen Frankenstein-Moment, wir sehen, welches Monster da erschaffen wurde – und viele fragen, wie und ob es noch zu kontrollieren ist.
Technologiekritik bedeutet nicht Technologiefeindlichkeit, im Gegenteil: Es geht um ein Bewusstsein, so wie man gute Weine schätzen kann und trotzdem übermäßigen Alkoholkonsum anprangert. Ich selbst etwa liebe Netflix. Ich habe diese ganzen Serien verschlungen, Homeland, House of Cards, Mad Men, Breaking Bad, The Americans, Designated Survivor, The Killing, Ray Donovan, Bloodline, Die Brücke und wie sie alle heißen. Und wenn eine Serie zu Ende ist, suche auch ich händeringend neue (Haben Sie vielleicht einen Tipp für mich? ) Gleichzeitig erschrickt man darüber, wie sehr Netflix Teil des Lebens geworden, ja wie Serien-Namedropping oft selbst Gespräche beherrscht. Und Netflix wächst: 70 Prozent der Amerikaner, so eine Studie von Deloitte aus dem März , schauen im Schnitt fünf Folgen am Stück. Ein Viertel der jungen Amerikaner gibt laut einer Studie des Pew-Centers an, fast ständig online zu sein. Neben dem so genannten „binge-watching“ (also Staffeln am Stück schauen) gibt es sogar den Trend des „binge-racing“ (wer als erster die Staffel durch hat). Und das wirkt nicht mehr cool, sondern krank.
Netflix selbst ist gar kein Problem, sondern nur ein Symptom: Es füllt unser Leben und macht es gleichzeitig leer, weil viele das Gefühl haben, nur noch zwischen Büro und Serie zu pendeln. Man hört nun immer öfter, dass Menschen das Smartphone aus dem Schlafzimmer verbannen oder vereinbaren, dass sonntags in manchen Familien die iPads und Laptops ruhen. Gut möglich, dass dies hilft – aber gleichzeitig wirkt es auch hilflos, wenn man den Grundmechanismus der Plattformen nicht aushebelt: Diese wollen uns möglichst oft und lange in ihr Ökosystem ziehen, wollen Zeit und Aufmerksamkeit. Und auf Dauer werden wir nur wieder Herr unserer Zeit und Aufmerksamkeit, wenn wir bewusst gegensteuern. Das ist wie bei einer Diät: Klar, sie können eine Woche fasten oder keine Schokolade essen. Auf Dauer aber hilft es nur, wenn Sie Ihre Ernährung umstellen und Sport treiben.
Ratschläge für die digitale Diät
Einige Dinge habe ich mir selbst vor einiger Zeit vorgenommen, als ich merkte, dass ich viel zu viel auf mein iPhone schaue (sogar wenn man es nur entsperrt, wischt und sonst gar nichts macht). Und ich kann sagen: Es hilft. Das kann ich Ihnen als Ratschlag weitergeben:
- Stellen Sie Stück für Stück die meist überflüssigen „Benachrichtigungen“ darüber aus, wer was auf Facebook, Xing, LinkedIn oder Twitter gesagt, gepostet oder geantwortet hat. Meist verpassen Sie nichts – wenn doch („Hast Du dieses krasse Youtube-Video gesehen?“), kann man es ja sofort nachholen. Wenn es nicht längst in einer der vielen WhatsApp-Gruppen ist, denen man ja auch noch folgt.
- Melden Sie sich von Newslettern ab, die Sie eh nur löschen, statt sie zu lesen. Auf Newsletter, die mit „Sales“, „Aktionen“ und „Rabatten“ eh nur verkaufen wollen, können Sie ganz verzichten. Das geht meist mit einem Klick am Ende des Newsletters. Bestellen Sie einen pro Tag ab.
- Schieben Sie die Apps von Facebook & Co. – wenn Sie sie nicht löschen möchten – auf dem Smartphone in das hinterste Fenster. Damit sehen Sie nicht mehr die „roten Augen“ mit der Notifications-Zahl, die Sie auf die Plattform ziehen soll. Interessanterweise sinkt diese Zahl auch wieder von allein, wenn Sie die App nicht öffnen.
- Betreiben Sie „Counter-Reading“! Lesen Sie immer etwas, was nicht auf dem Smartphone ist – ein Buch, ein Magazin oder die Zeitung. Schaffen Sie dafür Rituale und Räume, etwa die S-Bahn-Fahrt zurück aus dem Büro.
Und bis dahin bedanke ich mich mit einer alten Floskel, die diesmal ganz wunderbar klingt: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!