Vor genau einem Jahr passierte das Unfassbare: Ein kleines Privatflugzeug stürzte über einem Waldgebiet in Slowenien ab. Es war auf dem Rückweg von Venedig. An Bord: Unister-Gründer und Chef Thomas Wagner und drei weitere Personen. Mit ab-in-den-urlaub.de und fluege.de war Unister Marktführer beim Verkauf von Reisen im Internet. Doch der Leipziger Konzern stand kurz vor der Pleite, Wagner war muss so verzweifelt gewesen sein, dass er sich auf einen windigen Deal einließ. Bei dem Versuch, frisches Geld für das strauchelnde Unternehmen zu organisieren, fiel Wagner auf einen Kreditbetrüger herein, einen sogenannten Rip-Dealer. In Venedig sollte die Geldübergabe stattfinden.
Nachdem der Bluff aufgeflogen war, flog Wagner in der gemieteten Piper zurück nach Leipzig. Er sollte sein Ziel nicht erreichen. Die Maschine stürzte ab. Seitdem ranken sich Mythen um den Absturz, befeuert von ehemaligen Unister-Mitarbeitern. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Absturz auf vereiste Tragflächen zurückzuführen. Ein tragischer Unfall. Doch manch einer glaubt immer noch an die große Verschwörung. An einen Anschlag der organisierten Kriminalität. Erst Mitte Oktober wurde das Höhenruder der Maschine gefunden. Es lag ungewöhnlich weit von der Absturzstelle entfernt. Es soll Spuren von Fremdeinwirkungen aufweisen.
Rip-Dealer auf der Flucht
Angetrieben werden die Spekulationen über ein Verbrechen auch dadurch, dass der vermeintliche Diamantenhändler, der Wagner nach Venedig gelockt hatte, immer noch nicht gefasst wurde. Ein deutscher Vermittler, der den mutmaßlichen Deal mit Wagner eingetütet hatte, wurde allerdings in erster Instanz zu drei Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Er hat Berufung eingelegt.
Nach dem Tod Wagners beantragten die Gesellschafter des Unternehmens Insolvenz. Unister wurde zerschlagen, die Reiseportale gingen an den tschechischen Investor Rockway. Der Insolvenzverwalter sieht Anzeichen, dass es bei Unister zu einer Insolvenzverschleppung gekommen sein könnte. Gerichtsfeste Beweise hat er noch nicht.
In Leipzig läuft gegen ehemalige Unister-Manager ein Strafverfahren. Auf der Anklagebank hätte auch Wagner gesessen. Es geht um strittige Verkaufspraktiken, den unerlaubten Vertrieb von Versicherungen und Computerbetrug. Die Angeklagten weisen alle Vorwürfe zurück.
Capital hatte bereits im August vergangenen Jahres das Geschäftsmodell von Unister durchleuchtet und beschrieben, wie es zu der Existenzkrise des Unternehmens kommen konnte. Lesen Sie hier die Geschichte über den Aufstieg und Fall Unisters.
Fünf Freunde
Es waren einmal fünf junge Männer, die aus dem Nichts eines der größten Start-ups Europas aufbauten. Doch Mitte Juli 2016 sind von den fünfen zwei tot, der dritte hat gerade seinen Bruder verloren, und der vierte, Sebastian Gantzckow, weiß weder ein noch aus. Bloß Daniel Kirchhof, der fünfte Miteigentümer des Leipziger Onlineportalbetreibers Unister, versucht noch zu retten, was nicht mehr zu retten ist.
Am 16. Juli, es ist ein Samstagabend, treffen sich Kirchhof und Gantzckow in Leo’s Brasserie in der Leipziger Innenstadt. Zwei Tage sind seit dem Unfall vergangen, bei dem Unister-Chef Thomas Wagner und Mitgründer Oliver Schilling ums Leben kamen. Abgestürzt mit einer kleinen Maschine, in einem Wald in Slowenien.
Sie waren auf dem Rückweg aus Venedig, wo Wagner neues Geld für die marode Firma auftreiben wollte. Ein dubioser Retter hatte ihm einen Kredit von mindestens 10 Mio. Schweizer Franken angeboten. Als Sicherheit sollte Wagner 1,5 Mio. Euro in bar mitbringen. Dafür bekam er Schweizer Franken. Doch Wagner ließ sich Blüten andrehen. Ein Betrüger hatte ihn gelinkt.
Traurig und tragisch
So traurig, so tragisch die Situation auch ist: Was jetzt aus der Firma werde, will Kirchhof wissen. Viele Jahre war er die Nummer zwei hinter Wagner, bis er vergangenen Sommer im Streit Unister verließ. Er redet auf Gantzckow ein. Zwei Investoren habe er aufgetrieben. Noch sei nicht alles verloren. Er brauche nur ein bisschen Zeit. Kirchhof kämpft das ganze Wochenende. Er telefoniert, simst und mailt. Sitzt nachts in der Firma, um Unterlagen zu sichten. Da haben die beiden anderen noch lebenden Gesellschafter – Gantzckow und Oliver Schillings Zwillingsbruder Christian – ihre Entscheidung aber längst gefällt.
Am Montagmorgen geht beim Amtsgericht Leipzig der Insolvenzantrag für die Dachgesellschaft der Unister-Gruppe ein. Ein fünfseitiges Schriftstück, das am Sonntag so schnell zusammengeschrieben wurde, dass manche Zahlen falsch sind. Eine aber ist entwaffnend ehrlich: Die Gesellschaft verfüge über liquide Mittel „in Höhe von 0,00 Euro“. Kirchhof wird von dem Antrag erst am Mittag aus den Medien erfahren.
Aufstieg und Fall
Die Pleite markiert das bittere Ende einer Erfolgsgeschichte, wie sie sonst eher im Silicon Valley geschrieben wird. Sie handelt von dem smarten Gründer Thomas Wagner und seinen Partnern. Ihre tollkühnen Ideen revolutionieren den Reisemarkt. Mit Internetportalen wie ab-in-den-urlaub.de und fluege.de fordern sie die Großen der Branche heraus. Es dauert nicht lange, da vermittelt Unister mehr Reisen als die Riesen TUI oder L’Tur. Aus einer Studentenbude wird in zehn Jahren eine Holding mit etlichen Tochterfirmen und knapp 2 000 Mitarbeitern. Wagner & Co sind die Popstars der deutschen Start-up-Szene. Politiker hofieren sie. Altehrwürdige Unternehmen buhlen um ihre Gunst.
Doch hinter der schicken Gründerzeitfassade der Zentrale in der Leipziger Innenstadt verbirgt sich auch eine andere Geschichte. Ein Wirtschaftskrimi, der von geneppten Verbrauchern handelt, von fragwürdigen Produkten, dubiosen Deals und Krieg zwischen den Gesellschaftern. Und von einem Geschäftsmodell, das Recherchen von Capital zufolge schon vor fünf Jahren implodierte. Damals untersagte Google Unister eine Werbepraxis, die bis dahin viele Millionen in die Kassen gespült hatte.
Seitdem kämpfte Unister immer wieder mit einer angespannten Finanzlage. Immer wieder trieb Wagner Geldgeber oder kreative Einnahmequellen auf. Doch immer wieder traten neue Finanzlöcher auf. Am Ende muss Wagner so verzweifelt gewesen sein, dass er sich sogar auf den dubiosen Venedig-Deal einließ, um seine Firma am Leben zu halten. Wie konnte es bloß so weit kommen?
Thomas Wagner ist ein Kind des Ostens. Geboren am 30. Mai 1978, wächst er in einer Dessauer Plattenbausiedlung auf. Später studiert er in Leipzig BWL. Schon damals ist er davon überzeugt, dass sich im Internet viel Geld verdienen lässt. Freunden fällt das kleine Gerät auf, das Wagner auch beim Bier immer dabeihat und auf dem er alle paar Minuten Börsenkurse checkt – ein Pager.
2001 verschlägt es Wagner für ein Praktikum bei einer Unternehmensberatung nach Frankfurt. Oft trifft er sich dort mit Mathias K., einem Kommilitonen aus Leipzig. An einem Abend erzählt Wagner von einer Studentenplattform in Großbritannien, einer Art Napster für akademische Literatur. Das wäre doch auch was für Deutschland? Mathias K. ist begeistert. Die Idee scheitert später am Urheberrecht, aber der geplante Name bleibt: Unister, eine Mischung aus Uni und Napster.
Wagner und Mathias K. lassen sich nicht entmutigen. Zu Hause in Leipzig bringen sie sich Programmieren bei. Aus Unister wird nach der Gründung 2002 erst eine studentische Datingplattform, später die Frühform eines sozialen Netzwerks – und dann ab Ende 2003: ein Portal zur Vermittlung von Urlaubsreisen.
Zerwürfnis wegen Frau
Die Gesellschafter, die heute als Mitgründer gelten, stoßen erst später hinzu. Da sind die Zwillinge Oliver und Christian Schilling, beides Bundesgrenzschützer, die Wagner noch aus Dessau kennt. Sie beteiligen sich angeblich mit einer niedrigen fünfstelligen Summe. Wagner und Mathias K. halten jeweils 40 Prozent der Anteile, die Schillings je zehn Prozent. Studienfreund Daniel Kirchhof dockt erst später an. Genauso wie Sebastian Gantzckow, noch so ein Kumpel aus Dessauer Tagen.
Im Jahr 2004 kommt es zum Zerwürfnis zwischen Wagner und Mathias K., angeblich wegen einer Frau. K. verlässt die Firma, seine Anteile überschreibt er an Kirchhof, Gantzckow und die Schilling-Brüder. So erklären sich die Besitzverhältnisse, die im Grunde bis heute Bestand haben. Einzig Steffen Göpel, zu DDR-Zeiten ein bekannter Rennfahrer und mittlerweile schillernder Immobilieninvestor in Leipzig, stößt später noch über seine Firma Opus 30 zum Gesellschafterkreis. Den Anteil bekommt Göpel im Gegenzug für einen Kredit, mit dem er Unister 2014 aus einer der vielen finanziellen Klemmen befreit.
In den ersten Jahren macht Unister vieles richtig. Vielleicht sogar alles. Wagner erkennt die Chance, die das Internet für die Vermittlung von Urlauben, Flügen oder Krediten bietet. Während die etablierten Anbieter immer noch auf Büros oder Agenturen setzen, zieht er ein Portal nach dem anderen hoch. Unister wächst rasant. 2006 hat die Holding mehr als 100 Mitarbeiter, vier Jahre später sind es über 1 000. Es entsteht ein verzweigtes Firmengeflecht, mit einer klaren Arbeitsteilung an der Spitze: Wagner ist Stratege und Gesicht von Unister, Kirchhof der Mann für die Finanzen.
Anzeichen von Größenwahn
Aber schon jetzt sind bei Wagner Anzeichen von Größenwahn erkennbar. Es ist die Zeit, in der Medienkonzerne beginnen, viel Geld für Online-Start-ups auszugeben. Auch bei den beiden Managern des Holtzbrinck-Verlags, die Wagner 2006 aufsuchen, ist das Budget üppig. Doch der lässt sie kalt abblitzen. „Er hat einen sympathischen Eindruck gemacht“, erinnert sich einer der beiden. Doch am Ende habe Wagner sinngemäß gesagt: „Für das, was wir hier vorhaben, brauchen wir euch nicht.“ Nach dem Gespräch fragen sich die beiden Medienmanager, wen sie da gerade gesprochen haben – ein Genie oder einen Verrückten. „Im Rückblick muss man wohl sagen: Wagner war beides.“
Tatsächlich interessiert Wagner persönlicher Reichtum nicht. Der einzige Luxus: ein Porsche Boxster. Wenn er selbst Urlaub macht, dann mit dem Zelt an der Ostsee. Er trägt weiter seine schlabberigen Pullis, mittags isst er für ein paar Euro in der Rathauskantine. Als sich der damals schon über 30-Jährige 2009 endlich dazu durchringt, sein WG-Zimmer gegen eine kleine Stadtwohnung einzutauschen, bestellt er einige Kollegen zum Kistenschleppen ein. „Luxus hat ihn nie interessiert. Geld war nur dazu da, das Wachstum von Unister zu finanzieren“, sagt ein Ex-Manager. „Sein Antrieb war in erster Linie, es allen zu zeigen.“
Ab 2006 entwickelt sich Unister vom kecken Außenseiter zum Schwergewicht der Branche. 2008 liegt der vermittelte Reiseumsatz nach Schätzungen bei 330 Mio. Euro. Büros in mehreren Städten werden eröffnet, mit Urlaubstours ein eigener Reiseveranstalter auf den Markt gebracht. Unister wird zu einem der größten Arbeitgeber in Sachsen. Über die Jahre fließen fast 8 Mio. Euro Wirtschaftsförderung auf die Konten.
Ein Jahr später kratzt Unister an der 500-Mio.-Euro-Marke, bald darauf ist die Milliarde dran. In Spitzenjahren soll Unister Pauschalreisen, Flüge und Mietwagen für 2 Mrd. Euro vermittelt haben.
Mit der Wucht des Internets, einem dicken Marketingbudget und der Unterstützung von Werbegesichtern wie Michael Ballack und Reiner Calmund zertrümmert Wagner die traditionellen Vertriebsstrukturen der deutschen Tourismusbranche mit ihren Reisebüros. Den großen Veranstaltern diktiert Unister bald die Bedingungen. Zehn bis zwölf Prozent Provision zahlen TUI, Alltours oder L’Tur angeblich für jede vermittelte Reise. Eine Gelddruckmaschine, so scheint es.
Teurer Erfolg
Doch der Erfolg ist teuer erkauft. Die Sachsen zahlen Unsummen an Google, um in der Suchliste und auf den Werbeplätzen ganz oben zu stehen. In manchen Jahren seien es bis zu 100 Mio. Euro gewesen, sagen Insider. Angeblich sind die Leipziger zeitweise der größte deutsche Google-Kunde. Die beiden Firmen äußern sich dazu nicht.
In der Tourismusbranche wird Wagner argwöhnisch beäugt. Er gilt als der Mann, der „auf Du und Du mit Google“ ist und am besten versteht, wie die Suchmaschine tickt. Viele seiner jungen Mitarbeiter verehren ihn dafür. Ein Top-Manager nennt ihn sogar einen „deutschen Steve Jobs“.
In Wirklichkeit ist im Aufstieg von Unister der Absturz bereits angelegt. Die ungeheure Expansion geht zunehmend zulasten des Realitätssinns. Einmal sucht Wagner für den Standort Dresden 40 neue Mitarbeiter. In einem Interview sagt er: „Wenn wir 100 bekommen, nehmen wir 100.“ Mitarbeiter werden auf Vorrat eingestellt. Das erklärt, warum Unister in der Spitze fast 2 000 Leute beschäftigt hat. Portale mit ähnlichen Umsätzen kommen mit einem Drittel der Belegschaft aus.
Pakt mit Google
Wagners Ehrgeiz kennt keine Grenzen. Die Reisebranche ist ihm nicht genug. Er will die Finanzbranche erobern und auch den Einzelhandel. „Es ist nicht auszuschließen, dass er damals sogar ernsthaft dachte, er könne Amazon herausfordern“, sagt einer seiner Manager. Wie besessen kauft Unister Webadressen. Für die Domain shopping.de zahlen die Leipziger rund 2 Mio. Euro, für kredit.de knapp 1 Mio. Euro. Bald gehören den Sachsen Hunderte Internetadressen, von auto.de bis geld.de.
Ein konkretes Geschäftsmodell ist nicht zu erkennen, und doch findet Wagner einen Weg, die Domains zu Geld zu machen: mittels sogenannter Google-Arbitrage. So berichten es mehrere Ex-Manager. Hunderte Seiten Korrespondenz zwischen Google und Unister, die Capital vorliegen, bestätigen das.
Das Verhältnis zwischen den beiden Firmen gleicht einem faustischen Pakt. Aus den Mails geht hervor, dass Wagner seine besondere Stellung bei Google jahrelang ausnutzt – und jeden nur erdenklichen Graubereich des Google-Ökosystems austestet. Wie die besagte Arbitrage. Und die funktioniert so: Unister schaltet Anzeigen bei Google, um User auf seine Seiten zu locken. Dort findet der Nutzer allerdings nicht, was er sucht, beispielsweise eine günstige Waschmaschine oder ein rabattiertes Zugticket. Stattdessen werden ihm weitere Werbebanner angezeigt, über die er sich zum eigentlichen Angebot durchklickt.
Verstoß gegen Policy
Die unzähligen, scheinbar nutzlosen Domains wie auto.de oder shopping.de leiten die Kunden einfach weiter – und werden damit zu lukrativen Ertragsquellen: Die Anzeigenerlöse von Unister bei Drittanbietern sind höher als das, was sie selbst an Google zahlen. In Spitzenzeiten blieben „unterm Strich mehr als 1 Mio. Euro im Monat hängen“, sagt ein ehemaliger Top-Manager.
Google lässt sich diese Masche jahrelang gefallen – obwohl sie eklatant gegen die eigene Policy verstößt. Anfangs bleibt es bei mahnenden Worten. Als sich Wettbewerber immer stärker über die Unister-Praxis beschweren, greift Google durch. Am 5. April 2011 schickt ein Manager aus der Europazentrale eine Mail an Wagner. Die Betreffzeile lautet: „Unister AdWords Policy Violations Notice“.
Auf Hunderten Seiten listet Google auf, was Unister sich hat zuschulden kommen lassen. Das siebenseitige Anschreiben liest sich allerdings nicht wie eine Anklageschrift. Sondern eher wie die letzte Mahnung eines Lehrers, der seinen auf die schiefe Bahn geratenen Lieblingsschüler fast flehentlich zur Umkehr bewegen will.
Zigtausende Domains
Von einer „langen Historie an Regelverletzungen“ ist die Rede. Und von einer „Ausnahme“, die Google für Unister aufgrund „besonderer Umstände“ bereits gemacht habe. Denn eigentlich hätte Unister ja längst „suspendiert“ werden müssen. Wagner möge deshalb doch „bitte verstehen“, dass man nun endlich auf der Einhaltung der Regeln beharren müsse.
Tatsächlich lenkt Wagner ein. Unister kann es sich nicht leisten, Google zu verprellen. Damit, sagt ein Ex-Manager, „versiegte praktisch von heute auf morgen eine der wichtigsten Liquiditätsquellen“. Er ist sich sicher: „Das war der Anfang vom Ende.“
Neue Ertragsquellen müssen her. Doch wie? Die Leipziger intensivieren nun ein Geschäftsmodell, das sie schon seit 2009 betreiben. Unister lässt Zigtausende Domains registrieren, die eine Namensähnlichkeit mit Hotels rund um den Globus aufweisen. Darunter sind berühmte Ketten wie Intercontinental oder Holiday Inn. Mal wird die Länderkennung geändert, mal ein Ortsname ergänzt. Capital liegt eine Liste mit insgesamt 37 842 Domains vor, die Unister hat registrieren lassen.
Domain-Grabbing
Die Websites sind nahezu identisch mit den Originalseiten der Hotels. Unister richtet es ein, dass sie bei den Suchmaschinen vor den Originalen auftauchen. Der Kunde glaubt, er sei direkt beim Hotel gelandet – und bucht über die Unister-Seite. Unister kassiert dafür eine Provision vom Hotel. Eine Praxis, die nicht illegal ist, aber auf Widerstand stößt. Hotelketten klagen vor der Weltorganisation für geistiges Eigentum. 2012 knickt Unister ein und unterlässt die Praxis. Das sogenannte Domain-Grabbing sei verbreitet, heißt es beim Deutschen Hotel- und Gaststättenverband. Doch Unister sei bei diesen „unfairen Praktiken besonders negativ aufgefallen“.
Das Geschäft mit den Versicherungen
Als der Konflikt mit Google bereits auf seinen Höhepunkt zusteuert, greift Unister auch zu einer fragwürdigen Methode, die intern „Streichpreise“ genannt wird. Sie soll Kunden die Buchung von Flügen und Reisen besonders schmackhaft machen. Anfang 2011 tauchen auf den Unister-Portalen massenhaft Preise auf, die durch rote Schrift hervorgehoben und durchgestrichen sind. Diese angeblichen Ursprungspreise sollen dem Kunden signalisieren, dass er ein Schnäppchen bekommt. Tatsächlich sind sie frei erfunden.
Dabei geht Unister anfangs allerdings so ungeschickt vor, dass es Wettbewerbern auffällt. Alle durchgestrichenen Preise sind um 10 Euro teurer als der aktuelle Preis. Wagner soll daraufhin seine Programmierer angewiesen haben, einen Algorithmus zu entwickeln, der automatisch verschiedene Fantasiepreise erzeugt. Das geht aus Gerichtsunterlagen hervor, die Capital vorliegen.
Ab Herbst 2011 bietet Unister zudem Zusatzprodukte an, die stark an Versicherungen erinnern. Sie heißen „Stornoschutz“ und „FlexiFly“. Sie sollen Kunden einen Ausgleich garantieren, wenn sie Reisen oder Flüge umbuchen und dafür mehr bezahlen müssen. Eine Cashcow, die das Ende der Arbitrage kompensiert. Allein mit der FlexiFly-Option macht Unister über seine Flugportale von September 2011 bis Dezember 2012 mehr als 14 Mio. Euro Umsatz – bei Kosten von gerade einmal 600 000 Euro. Doch genau wegen dieser Produkte beginnt ab Mitte 2012 die Staatsanwaltschaft zu ermitteln. Der Verdacht: Unister habe ohne Genehmigung Versicherungen vertrieben. Zudem geht es um den Vorwurf der Steuerhinterziehung bei den auf diese Weise erzielten Umsätzen und unzulässiger Werbung wegen der „Streichpreise“.
Razzia und U-Haft
Am Morgen des 11. Dezember 2012 gegen 8.30 Uhr schlägt die Generalstaatsanwaltschaft Dresden zu. Mit 120 Ermittlern durchsucht sie Unister-Büros und Privatwohnungen an mehreren Orten und stellt viele Gigabyte Daten sicher. Wagner und Kirchhof kommen in U-Haft. Im Haftbefehl heißt es, die beiden müssten wegen der hinterzogenen Summe von knapp 1,3 Mio. Euro im Fall einer Verurteilung mit „sehr empfindlichen Freiheitsstrafen“ rechnen. Erst kurz vor Weihnachten kommen sie gegen Kaution frei.
Für die beiden Unister-Chefs beginnt ein langer Kampf um ihre Reputation. Sie sehen sich zu Unrecht im Visier der Justiz, angeschwärzt von Konkurrenten und ehemaligen Mitarbeitern. Vertraute von Wagner klagen über eine „absurde Verfolgungswucht“ der Staatsanwaltschaft, die 2013 zu zwei weiteren Razzien ausrückt. Später prangern Wagners Anwälte an, dass die Ermittlungen Unister mehr als 45 Mio. Euro gekostet hätten: durch die Kündigung wichtiger Vertragspartner, Kosten für Rechtsberatung, die Absage zahlreicher Investoren und die Kündigung mehrerer Kreditlinien. Die Ermittlungen hätten die Unister-Gruppe „in ihrer Existenz gefährdet“.
Anfang 2016 signalisiert das Landgericht Leipzig, dass es die Anklage in weiten Teilen zur Hauptverhandlung zulassen will. Auf das Angebot, über eine Einstellung des Verfahrens gegen eine Bewährungsstrafe zu verhandeln, geht Wagner nicht ein. Sein Anwalt bittet das Gericht, erst nach der Sommerpause mit dem Prozess zu beginnen. Wagner suche nach einer Finanzierung für sein Unternehmen, ein Prozess würde die Gespräche belasten.
Das Imperium bröckelt
Seit der Razzia 2012 ist die Lage bei Unister prekärer denn je. Das Imperium bröckelt. Und doch kann Unister immer noch von seinem Mythos zehren. Und so schwingt sich 2013 der Hamburger Versicherer Hanse Merkur zu einer Art Schutzmacht auf. Nach Capital-Informationen stellen die Norddeutschen mehr als 50 Mio. Euro an Krediten zur Verfügung.
Die üppige Verzinsung von angeblich rund zehn Prozent ist nicht der einzige Grund, weshalb sich die Hanse Merkur auf dieses höchst ungewöhnliche Geschäft einlässt. Vielmehr nutzt der Versicherer die Unister-Portale als Absatzplattform für – laut Verbraucherschützern – überteuerte Reiseversicherungen. Die Hanse Merkur möchte sich derzeit zu dem Geschäftsverhältnis mit Unister nicht äußern.
Der Metzler-Deal
Für die fragwürdigen Geschäfte des Thomas Wagner lässt sich sogar ein Geschäftspartner einspannen, der sich normalerweise ein Höchstmaß an Tugendhaftigkeit zugutehält: das traditionsreiche Frankfurter Bankhaus Metzler. Um den Unister-Metzler-Deal zu verstehen, muss man einen Blick ins Jahr 2009 werfen. Auf seiner Expansionstour verleibt sich Wagner damals den Rivalen Travel24 ein, einen maladen Urlaubsvermittler, dem Branchenexperten kaum noch eine Chance gaben. Unter dem Dach von Unister erlebt die scheintote Firma jedoch eine wundersame Auferstehung. Bis 2012 steigen die Umsätze um das 35-fache auf 28,7 Mio. Euro – und das, obwohl Travel24 gerade mal elf Mitarbeiter beschäftigt.
Potente Investoren werden auf die Unister-Tochter aufmerksam – so sieht es zumindest von außen aus. Für rund 20 Mio. Euro übernimmt Metzler im August 2012 knapp 30 Prozent der Travel24-Anteile. Ein Ritterschlag. Unklar bleibt allerdings, ob das Institut die Anteile für sich selbst oder einen Dritten gekauft hat. „Im Auftrag eines Kunden“, heißt es lediglich.
Dank Metzler gilt Travel24 nun als salonfähig – was Wagner für den nächsten Finanzcoup nutzt: Travel24 begibt eine Anleihe über 25 Mio. Euro. Zu den Zeichnern gehören auch viele Kleinanleger, die sich von den vermeintlichen Erfolgen haben anlocken lassen. Doch kaum ist das frische Geld in der Kasse, verdunkeln sich die Bilanzen von Travel24 wieder. 2013 schreibt das Unternehmen satte Verluste.Metzler hat scheinbar genug von seinem Engagement – und verkauft seine Anteile zurück an Unister. Nun ist alles wieder beim Alten. Mit dem Unterschied allerdings, dass das Geld der Anleiheinvestoren nun im Unternehmen steckt.
Alles nur eine Inszenierung?
Was sollte die ganze Transaktion? Tatsächlich gab es gar keinen externen Käufer für die Papiere. Metzler räumt nun ein, die Papiere im Auftrag von Unister erworben zu haben. Ziel sei ein Weiterverkauf gewesen. Dazu sei es aber nicht gekommen – sodass man die Anteile an Unister zurückverkauft habe. Geschmäckle? Nein, ein normales Bankgeschäft, heißt es in Frankfurt. Unister weist den Eindruck, bei der ganzen Aktion habe es sich um eine Inszenierung gehandelt, entschieden zurück.
"Bilanziell überschuldet"
Erste Hinweise auf eine schlechtere finanzielle Lage von Unister finden sich bereits im Geschäftsbericht 2012. Erwähnt werden darin „außerordentliche Cash-Belastungen“, die zu einer „angespannten Situation“ geführt hätten. Im Jahresabschluss 2013, der nie publiziert wurde, Capital aber vorliegt, ist von einer „bilanziellen Überschuldung“ die Rede. Der Fehlbetrag liegt bei 27,7 Mio. Euro.
Weil sich die Banken – darunter Unicredit und die Commerzbank – zurückziehen, wird das Auftun alternativer Finanzquellen zur Überlebensfrage. Ende 2014 geht Unister auf Investorensuche. Namhafte Interessenten melden sich, darunter Bertelsmann und Pro Sieben Sat 1. Letztlich will niemand einsteigen. Lag es an den schlechten Zahlen? An den vielen Rechtsrisiken? An Wagners überzogenen Preisvorstellungen? Oder daran, dass er nicht bereit war, die Kontrolle über seine Firma abzugeben? „Vermutlich war es die Summe dieser Faktoren“, sagt der Chef eines Unternehmens, das als Interessent gehandelt wurde.
Bei Unister liegen die Nerven blank. Top-Manager suchen das Weite. Thomas Wagner schottet sich zunehmend ab. Er muss sich von seinen Gegnern innerhalb und außerhalb des Unternehmens bedrängt fühlen: von Wettbewerbern, der Staatsanwaltschaft, Ex-Mitarbeitern und seinem Wegbegleiter Kirchhof, mit dem er sich seit der Zeit in der U-Haft immer stärker verkracht hat. Seit 2015 herrscht Krieg unter den Gesellschaftern. Wagner will Kirchhof aus dem Konzern drängen, Kirchhof wirft Wagner vor, ihn auszuspionieren. Die Ex-Kompagnons verklagen sich. Statt in ihrem gemeinsamen Büro sehen sich beide im Sommer 2015 vor Gericht. In der Folge zieht sich Kirchhof aus dem operativen Geschäft zurück.
Lebensader gekappt
Die finanzielle Not wird 2015 immer größer. Im Oktober werden die Kredite der Hanse Merkur fällig. Unister kann aber nicht zahlen. Der Versicherer hält still – nur wie lange? Wagner beginnt, das Tafelsilber zu verkaufen. Geld.de geht für angeblich gut 10 Mio. Euro an den Versicherungsmakler JDC. Das Grundstück, auf dem in besseren Zeiten eine 40 Mio. Euro teure neue Firmenzentrale geplant war, wird verkauft.
Es reicht alles nicht. Rechnungen werden immer später beglichen, selbst Mitarbeiter, so heißt es, warten nun regelmäßig auf ihr Gehalt. Dabei hat sich die Zahl der Angestellten bereits auf 1 100 reduziert. Dass es mit Unister zu Ende geht, wird spätestens im Juni 2016 klar. Da verschwinden ab-in-den-Urlaub.de und fluege.de zwischenzeitlich von den Anzeigenplätzen bei Google. Unister kappt seine wichtigste Lebensader – weil nicht einmal mehr Geld da ist, um die Werbeanzeigen zu bezahlen.
Stadium purer Verzweiflung
Wagner dürfte sich da längst in einem Stadium purer Verzweiflung befunden haben. So verschickt Unister zuletzt offenbar Zehntausende „Gutscheine“, um Kunden zur Buchung von Reisen zu bewegen. „Betriebswirtschaftlich war das der reine Wahnsinn“, sagt ein Insider.
Doch äußerlich lässt sich Wagner nichts anmerken. Volker Külow, ein Linke-Politiker, der einen guten Draht zu dem Unister-Chef hatte, trifft ihn noch Anfang Juni. „Wagner wirkte ruhig und gelassen, obwohl er offensichtlich mit dem Rücken zur Wand stand“, sagt Külow.
Von außen ist kaum zu verstehen, warum Wagner glaubte, in Venedig würde jemand auf ihn warten, der bereit ist, einen großen Geldkoffer gegen einen sehr viel größeren zu tauschen. Für ihn aber war der Deal offenbar die letzte Chance.
Der Beitrag ist zuerst in Capital 09/2016 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop, wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes, GooglePlay und Amazon