Das Interview mit Yvonne Hofstetter ist zuerst im Journal von getAbstract erschienen. Capital publiziert hier eine gekürzte Version, das vollständige Interview finden Sie hier. Getabstract und Capital kooperieren anlässlich des Getabstract International Book Award 2020, für den Yvonne Hofstetter mit ihrem Buch „Der unsichtbare Krieg“ nominiert ist.
Frau Hofstetter, in Ihrem Buch Der unsichtbare Krieg schlagen Sie Alarm: Der Westen sei auf die politischen und militärischen Bedrohungen durch die Digitalisierung kaum vorbereitet. Wie müssen wir uns diese Bedrohung konkret vorstellen?
YVONNE HOFSTETTER: Ein klassischer, zwischenstaatlicher Krieg hat das Ziel, den Gegner zu etwas zu zwingen, und zwar mit sicht- und fühlbarer militärischer Gewalt: Raketen, Panzer, Präzisionsmunition – allesamt Mittel, die kinetische Energie freisetzen. Beim Cyberkrieg wollen Staaten andere Staaten auf digitalem und damit unsichtbarem Wege zu etwas zwingen: zum Beispiel, indem sie Daten klauen und die gestohlenen Informationen veröffentlichen (Doxing). Spionage oder Erpressung sind zwar nichts Neues, aber die Online-Durchführung skaliert eben viel besser als früher. Ein Trojaner, der Daten meines Rechners überträgt, kann sehr lange unsichtbar bleiben. Ein Schläfervirus zu Sabotagezwecken nistet sich häufig unbemerkt in kritischer Infrastruktur ein. Und ein Angriff auf die Köpfe von Wählern lässt sich nur schwer zuordnen und beweisen. Kurzum: Die Digitalisierung hat neue Schlachtfelder geschaffen, auf denen neben kriminellen Hackern und Erpressern auch Staaten aktiv sind.
Auf diesen Schlachtfeldern richten die von Ihnen angesprochenen hybriden Kampftechniken bereits große Schäden an. Dabei sollte es für technisch hochentwickelte Volkswirtschaften ein Leichtes sein, sich dagegen zu verteidigen. Warum passiert das nicht?
Unter anderem weil Einsatz und Risiko bei einem Angriff gering und die Erfolgsaussichten hoch sind: Das Internet of Everything, also die vernetzte Umgebungsintelligenz, an der auch europäische Volkswirtschaften mit Hochdruck arbeiten, ist nicht nur ökonomisch kostbar – sie wird auch politisch immer wertvoller. Weil wir eine offene Gesellschaft pflegen, laden wir digitale Angreifer geradezu ein. Bildlich gesprochen schaffen wir eine Art Cyber-Schengen, allerdings ohne Sicherheit an den Außengrenzen und ohne die Möglichkeit, Gefährder oder Angreifer eindeutig zu identifizieren. Erst wenn wir eine Manipulation oder Aggression bemerken und sicher zuordnen können, dürfen wir fragen: Wie sollen wir uns nun dagegen verteidigen?
Sie warnen ausdrücklich vor einer Situation, bei der eine Reihe von digitalen Angriffen zu einem heißen Krieg eskalieren könnte. Wie sieht ein solches Szenario aus?
Das allgemeine Gewaltverbot des Völkerrechts verbietet den UN-Mitgliedsstaaten die militärische Gewaltanwendung. Sie ist nur dann gerechtfertigt, wenn ein Staat sich gegen einen bewaffneten Angriff verteidigen muss. Nun kann man argumentieren, dass Computerviren oder Trojaner nicht mit Raketen gleichzusetzen sind. Die Amerikaner sehen das allerdings anders. Ihre Nationale Sicherheitsstrategie 2018 schlägt vor: Erfolgt ein schwerer digitaler Angriff auf ihr Land, gibt es also Tote, Verletzte oder zerstörte Infrastrukturen, will sich die Regierung gegenüber dem Angreifer vorbehalten, mit taktischen Nuklearwaffen zurückzuschlagen. Dann würde aus einem Cyberkrieg ein heißer Krieg. Nicht die Wahl des Angriffsmittels, sondern die subjektiv empfundene Schadenshöhe wäre dann ausschlaggebend für einen nuklearen Gegenschlag – ein furchtbarer Gedanke. Es wird also höchste Zeit, dass sich die Staatengemeinschaft auf gemeinsame Standards einigt.
Auch der Informationsraum ist durch Facebook, Twitter und Co. zum Kriegsschauplatz geworden. Die Anhörungen zum Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump haben deutlich gezeigt, was auf dem Spiel steht. Erleben wir gerade eine Art Endspiel, an dem sich das Schicksal der freiheitlich demokratischen Grundordnung in den USA entscheidet?
Gegenfrage: Lebt Amerika noch in einer vollständig demokratischen Ordnung? Etliche amerikanische Verfassungsrechtler bezweifeln das inzwischen. Das System ist mindestens defekt, wenn nicht schon hybrid, also in der Zwischenwelt von defekter Demokratie und Diktatur. Die Demokratie gilt ja eigentlich als „Gemeinschaft Vernünftiger“. Doch die Vernunft kommt uns zunehmend abhanden. Denn das Internet ist die Affektmaschine schlechthin. Ursprünglich war die Motivation, die Menschen durch Emotionalisierung zu mehr Konsum zu bewegen. Doch inzwischen ist der Informationsraum politisch geworden und will die Nutzer emotional bewegen: mit wenig Text – Twitter – und immer mehr Bildern – Instagram.
Sie haben es bereits angedeutet: Konsum und Profit stehen im Westen beim Einsatz digitaler Technik ganz oben. China und auch Russland verfolgen andere Ziele. Welche Folgen hat das?
Im Westen soll die Digitalisierung vor allem dabei helfen, profitabler und wettbewerbsfähiger zu werden. Die Anwendungen, für die wir künstliche Intelligenz einsetzen, zielen genau darauf ab: auf die Automatisierung menschlicher Arbeit, smarte Assistenten und optimierte Arbeitsprozesse. China hingegen bietet sich anderen Ländern als Systemalternative an und verspricht materiellen Reichtum zum Preis von maximaler Kontrolle. Künstliche Intelligenz wird eingesetzt, um Bürger und Unternehmen zu überwachen, zu kategorisieren, zu disziplinieren, aber auch für die angestrebte Singularität auf dem Schlachtfeld. Künftig sollen smarte chinesische Maschinen die besseren Soldaten sein. Und Russland? Die KI-Strategie wird dort noch viel stärker vom Staat bestimmt als in China. Das liegt daran, dass Russland nicht auf dasselbe Ökosystem von Start-ups und Finanzierungen zurückgreifen kann wie etwa die USA. In Russland muss der Staat deshalb besonders ran.
Bei aller Skepsis gegenüber den Motiven Chinas hoffte man im Westen lange Zeit, die Regierung würde zumindest nichts riskieren, was das Wachstum der Wirtschaft gefährdete. Ist diese Hoffnung noch berechtigt?
Das war das Credo der Globalisierung: Wer handelt, schießt nicht. Einige Jahre unter Deng Xiaoping schien diese Hoffnung auch begründet. Spätestens seit dem Amtsantritt Xi Jinpings setzt die chinesische Führung jedoch andere Prioritäten, nämlich ihren chinesischen Traum um jeden Preis zu verwirklichen. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte greift eine Kommunistische Partei unter autokratischer Führung nach der globalen Führungsposition und verzichtet dabei auf Werte wie Menschenrechte, freie Presse, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft. Und das erschreckend erfolgreich: China setzt seine Vision konsequent um. Dazu gehören die Spaltung Europas oder digitale Wirtschaftsspionage. Hier muss man künftig eher mit einer noch schärferen Gangart rechnen.
Sie besuchen in Ihrem Buch viele offene Baustellen und wagen düstere Prognosen. Gibt es auch Entwicklungen und Tendenzen, die Sie optimistisch stimmen?
Ja, Europa bewegt sich zumindest gedanklich in die richtige Richtung. Die 2019 neu aufgestellte EU-Kommission hat erkannt, dass Europa digitale Souveränität braucht. Die europäische Cloud GAIA-X – getragen von der deutschen Bundesregierung – soll dazu beitragen, auch wenn die Finanzierung mit 19 Mio. Euro im Jahr 2020 lächerlich niedrig ist. Cloud-Infrastruktur ist kostspielig: 19 Mrd. Euro verteilt über einige Jahre wären angemessener. Einige Infrastrukturbetreiber haben Strategiepapiere zur Schaffung einer sicheren Umgebungsintelligenz vorgelegt. Kritische Infrastrukturen sollen in getrennten Netzen betrieben werden. Die Sicherheitsforschung brummt, und Deutschland vergibt Mittel zur Erforschung hybrider Bedrohungen. In der Summe gibt es also eine Menge guter Initiativen, speziell zur Verteidigung der europäischen Umgebungsintelligenz. Das lässt hoffen.
Gundula Stoll ist freie Journalistin und Übersetzerin. Sie liest und schreibt seit Anfang 2000 für getAbstract.