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Kommentar Scheinriese Deutschland

Deutschland steht nur scheinbar gut da. Bei näherer Betrachtung ist es ein Problemland in der Eurozone. Von Philippe Legrain
Das Brandenburger Tor in Berlin
Das Brandenburger Tor in Berlin

Philippe Legrain ist Gastprofessor am European Institute der London School of Economics und war Wirtschaftsberater des Präsidenten der Europäischen Kommission. Er ist Autor des Buches "European Spring: Why Our Economies and Politics are in a Mess – and How to Put Them Right"

60 Jahre lang bemühten sich deutsche Regierungen sukzessive um ein stärker europäisches Deutschland. Jetzt jedoch will die Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel die europäischen Volkswirtschaften nach deutschem Vorbild umgestalten. Das ist politisch unklug und wirtschaftlich gefährlich. Anders als Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble und andere prahlen, ist Deutschland nicht Europas erfolgreichste Volkswirtschaft; vielmehr ist die deutsche Volkswirtschaft in ihrer Funktionsfähigkeit gestört.

Sicher hat Deutschland seine Stärken: Unternehmen von Weltrang, eine niedrige Arbeitslosigkeit und eine hervorragende Bonität. Zugleich jedoch weist es stagnierende Löhne, kaputte Banken, unzureichende Investitionen, schwache Produktivitätszuwächse, eine düstere demografische Entwicklung und ein anämisches Produktionswachstum auf. Sein zu Lasten seiner Nachbarn gehendes Wirtschaftsmodell – bei dem die Löhne niedrig gehalten werden, um den Export zu subventionieren –, sollte dem restlichen Euroraum nicht als Vorbild dienen.

Die deutsche Volkswirtschaft ist im zweiten Quartal 2014 geschrumpft und seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 um gerade mal 3,6 Prozent gewachsen – etwas stärker als Frankreich und Großbritannien, aber nicht halb so stark wie Schweden, die Schweiz und die USA. Seit dem Jahr 2000 liegt das durchschnittliche BIP-Wachstum bei lediglich 1,1 Prozent pro Jahr; damit steht Deutschland unter den 18 Mitgliedern der Eurozone auf Rang 13.

Deutschland gehört immer noch auf die Krankenstation

Als der Euro 1999 eingeführt wurde, galt Deutschland als der „kranke Mann Europas“. Es reagierte darauf nicht etwa mit einer Förderung der wirtschaftlichen Dynamik, sondern mit Kostensenkungen. Der Anteil der Investitionen am BIP ist von 22,3 Prozent im Jahr 2000 auf 17 Prozent im Jahr 2013 gesunken. Die Infrastruktur – Autobahnen, Brücken und selbst der Nord-Ostsee-Kanal – zerfällt aufgrund jahrelanger Vernachlässigung. Im Bildungssystem knirscht es: Die Anzahl neuer Lehrstellen ist auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung gefallen, das Land hat weniger neue Hochschulabsolventen (29 Prozent) als Griechenland (34 Prozent), und seine besten Universitäten schaffen es nur mit Mühe unter die weltweiten Top-50.

Durch unzureichende Investitionen behindert, tut sich Deutschlands arthritische Wirtschaft schwer mit der Anpassung an neue Gegebenheiten. Trotz der Arbeitsmarktreformen des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder ist es in Deutschland schwerer als irgendwo sonst in der OECD, einem fest angestellten Mitarbeiter zu kündigen. Laut den Doing-Business-Rankings der Weltbank liegt Deutschland, was die Einfachheit einer Unternehmensgründung angeht, weltweit abgeschlagen auf dem 111. Platz. Seine Großunternehmen sind alt und agieren in eingefahrenen Strukturen; Äquivalente zu Google oder Facebook hat das Land nicht hervorgebracht.

Besonders verkrustet ist der Dienstleistungssektor. In den letzten sieben Jahren wurden seitens der Regierung laut OECD weniger wachstumsfördernde Reformen auf den Weg gebracht als in jedem anderen hochentwickelten Land. Das jährliche Produktivitätswachstum lag während des vergangenen Jahrzehnts bei bloßen 0,9 Prozent und damit noch unter dem portugiesischen.

Unter der Stagnation leiden vor allem die deutschen Arbeitnehmer. Obwohl ihre Produktivität in den letzten 15 Jahren um 17,8 Prozent gestiegen ist, liegen die Reallöhne heute niedriger als 1999, als durch eine zwischen der Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften getroffene Vereinbarung die Löhne faktisch nach oben begrenzt wurden. Da mögen die Unternehmer jubeln, aber wenn man die Löhne derart niedrig hält, geht das zu Lasten der langfristigen wirtschaftlichen Aussichten – denn die Arbeitnehmer werden entmutigt, ihre Kenntnisse zu erweitern, und die Unternehmen werden entmutigt, in eine hochwertigere Produktion zu investieren.

Der Exportmotor schwächelt

Der Druck auf die Löhne schwächt die Binnennachfrage und subventioniert den Export, von dem das deutsche Wirtschaftswachstum abhängt. Auch der Euro, der zweifellos deutlich schwächer ist als die D-Mark es gewesen wäre, hat dabei geholfen, denn er hat die Preise für deutsche Waren gesenkt und Frankreich und Italien an Währungsabwertungen gehindert. Bis vor kurzem hat der Euro zudem für eine boomende Außennachfrage in Südeuropa gesorgt, während das Höllentempo der industriellen Entwicklung in China die Nachfrage nach traditionellen deutschen Exportgütern steigerte.

Doch angesichts der derzeitigen Depression in Südeuropa und des Abschwungs in China sowie der Verringerung der chinesischen Investitionsausgaben hat sich die deutsche Exportmaschinerie verlangsamt. Deutschlands Anteil am weltweiten Export ist von 9,1 Prozent im Jahr 2007 auf acht Prozent im Jahr 2013 gefallen und damit so niedrig wie in der Ära des „kranken Mannes“, als Deutschland mit der Wiedervereinigung zu kämpfen hatte. Da Autos und andere unter dem Label „Made in Germany“ verkaufte Exporte inzwischen viele in Mittel- und Osteuropa produzierte Teile enthalten, ist Deutschlands Anteil an den weltweiten Exporten auf die Wertschöpfung bezogen auf einen historischen Tiefststand gefallen.

Die deutsche Politik ist stolz auf den enormen Leistungsbilanzüberschuss des Landes – Stand Juni 197 Mrd. Euro –, den sie als Zeichen für die herausragenden Wettbewerbsfähigkeit des Landes sieht. Aber wenn dem so ist, warum sind dann die Unternehmen nicht bereit, mehr im Land zu investieren?

Deutschland verbreitet Instabilität

Tatsächlich sind Außenhandelsüberschüsse ein Symptom einer maroden Wirtschaft. Stagnierende Löhne treiben die Überschüsse der Unternehmen in die Höhe, während reduzierte Ausgaben, ein abgewürgter Dienstleistungssektor und die Erschwerung von Unternehmensgründungen eine schrumpfende Investitionstätigkeit im Inland zur Folge haben. Die sich so ergebenden Ersparnisüberschüsse werden dann häufig im Ausland verschleudert. Laut Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin ist der Wert der deutschen Auslandsbeteiligungen zwischen 2006 und 2012 um 600 Mrd. Euro (22 Prozent des BIP) gefallen.

Schlimmer noch: Statt ein „Anker der Stabilität“ für die Eurozone zu sein, wie Schäuble behauptet, verbreitet Deutschland Instabilität. Mit ihrem falschen Ansatz bei der Kreditvergabe haben die Banken mit ihren Ersparnisüberschüssen vor dem Ausbruch der Finanzkrise zum Aufbau von Vermögenspreisblasen beigetragen, und bewirken seitdem eine Schuldendeflation.

Genauso wenig ist Deutschland „Wachstumsmotor“ für die Eurozone. Tatsächlich bremst seine schwache Binnennachfrage das Wachstum anderswo. Dies macht es zunehmend unwahrscheinlich, dass Deutschlands Banken und Steuerzahler das Geld aus den faulen Krediten an Südeuropa wiedersehen werden.

Angesichts der negativen Auswirkungen der niedrigeren Löhne auf die deutsche Wirtschaft wäre es eine Katastrophe, dem Rest der Eurozone Lohnsenkungen aufzuzwingen. Drastische Einkommenssenkungen verringern die inländischen Ausgaben und führen dazu, dass Schulden noch schwerer zu bewältigen sind. Und aufgrund der schwachen globalen Nachfrage kann sich die Eurozone als Ganze nicht darauf verlassen, ihre Schulden über ein Exportwachstum zu bewältigen. Für die sich abkämpfenden südeuropäischen Volkswirtschaften, deren traditionelle Exporte durch chinesische und türkische Konkurrenz unterhöhlt wurden, besteht die Lösung darin, zu investieren und durch Produktion neuer und besserer Produkte in der Wertschöpfungskette aufzurücken.

Die deutsche Volkswirtschaft bedarf einer Überholung. Die Politik sollte sich auf die Steigerung der Produktivität konzentrieren und nicht die „Wettbewerbsfähigkeit“ verbessern. Und die Arbeitnehmer müssen bekommen, was ihnen zusteht. Die Regierung sollte die ultraniedrigen Zinsen nutzen, um zu investieren, und die Unternehmen – insbesondere Start-ups – ermutigen, dasselbe zu tun. Und schließlich sollte Deutschland mehr dynamische junge Einwanderer willkommen heißen, um seinen demografischen Niedergang aufzuhalten.

Das wäre ein besseres Wirtschaftsmodell für Deutschland. Es würde zudem das richtige Beispiel für das übrige Europa setzen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2014. www.project-syndicate.org

Foto Legrain: © Laif

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