Anzeige

Timo Pache Die historische Aufgabe für einen Kanzler Merz

Friedrich Merz gibt ein Pressestatement zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt 2021
CDU-Chef Friedrich Merz: Als Kanzler wäre es an ihm, die Schuldenbremse zu reformieren
© Kay Nietfeld/dpa / Picture Alliance
Die heutige Schuldenbremse passt nicht mehr in die Zeit, das wissen auch viele in der Union. Und nur die Konservativen werden in der Lage sein, sie nach der nächsten Wahl zu reformieren

Natürlich trifft ein Urteil zuallererst immer den Beklagten – erst recht, wenn die Entscheidung der Richter so deutlich ausfällt wie am Mittwoch dieser Woche beim Bundesverfassungsgericht. Klar, dass alle als erstes auf die drei Koalitionsparteien schauen und festhalten: So eine krasse Niederlage für ein so zentrales Regierungsvorhaben – ja, quasi die Grundlage von allem, was sich SPD, FDP und Grüne vorgenommen hatten – hat eine Bundesregierung selten beim höchsten deutschen Gericht kassiert. Das ist so. 

Und diese Niederlage passt zum aktuellen Gesamtbild, das die Koalition seit Monaten abgibt: fahrig, stümperhaft, ohne Ziel und Plan. Obwohl (oder vielleicht gerade weil) an ihrer Spitze immer noch ein Kanzler steht, der sich stets für den Klügsten hält, der je das Land regieren durfte. Auch wenn es ausgerechnet dieser Olaf Scholz war (und nicht der aktuelle Amtsinhaber), der 2021 noch als Finanzminister den Plan ausheckte, ungenutzte Kreditermächtigungen einfach in ein Töpfchen neben den offiziellen Bundeshaushalt zu legen, um sich so ein bisschen finanzielle Beinfreiheit für seine neue Regierung zu verschaffen. 

Zwei Tage nach dem Urteil jedoch lohnt sich ein zweiter Blick, und der geht nun in Richtung der Kläger. Denn wenn es stimmt, dass dieses Urteil die Haushaltsplanung bis weit über die nächste Bundestagswahl hinaus beeinflussen wird, und das wird es, dann muss man angesichts der Stimmung im Land auch die Frage stellen: Was bedeutet die Entscheidung eigentlich für CDU und CSU, die nach der nächsten Wahl ziemlich sicher wieder den Kanzler stellen werden? 

20-Mrd-Euro-Loch im Bundeshaushalt

Die erste Reaktion von Friedrich Merz war unmissverständlich: Das Urteil, das seine Fraktion in Karlsruhe erstritten hatte, sei „das Ende aller Schattenhaushalte“, so der CDU-Chef. Künftig gebe es nur noch „einen Bundeshaushalt, in dem alle Einnahmen und Ausgaben nach dem Jährlichkeitsprinzip zu verbuchen sind“. Einer Änderung der Schuldenbremse werde die Union mit ihm nicht zustimmen. 

Schon im Bundeshaushalt 2024 könnten schätzungsweise 20 Mrd. Euro gegenüber der bisherigen Haushaltsplanung fehlen. Da sich das Urteil jedoch auf alle schuldenfinanzierten Nebenhaushalte erstrecken könnte (also auch auf den Wirtschaftsstabilisierungsfonds, aus dem etwa die Strom- und Gaspreisbremse finanziert wird), könnte das Loch noch deutlich größer ausfallen – und es wächst mit jedem Jahr, da die Nebenhaushalte gerade dazu dienten, mehrjährige Projekte zu finanzieren. So wird sich die wahre Bedeutung des Urteils wohl erst im Jahr 2025 und danach zeigen – wenn der Kanzler Friedrich Merz heißen könnte.

Der Satz, die Regierung könne ab jetzt nur noch ausgeben, was sie in einem Jahr an Einnahmen zu erwarten habe, könnte den CDU-Chef also schneller einholen, als ihm selbst gerade lieb sein dürfte. Denn auch die Union hatte in den vergangenen 18 Jahren, von denen sie 16 regierte und acht Jahre den Finanzminister stellte, ihren Anteil daran, dass selbst in den besten Zeiten eigentlich nie viel im Haushalt übrig blieb außer der schwarzen Null. Weil auch sie Jahr für Jahr neue Dinge fand, für die sich das Geld doch lohnen würde: das Elterngeld etwa, die Mütterrente, Bildung und Forschung, und etliche Leistungsverbesserungen in der Kranken- und Pflegeversicherung – alles Erfindungen von CDU/CSU. 

Auch in dieser Woche hatten Merz und seine Parteifreunde noch etliche Ideen, was man mit dem Geld des Bundes anstellen könne: Zehn Milliarden mehr für die Bundeswehr etwa, sofort ab 2024. Sinnvoll angesichts des Zustands der Armee – aber wie bezahlen? 10.000 Euro Startkapital für jedes neugeborene Kind in Deutschland, als Basis für die private Altersvorsorge, sieben Milliarden extra – auch das klingt gut, aber woher nehmen? Oder eine groß angelegte Steuerreform mit Entlastungen für Familien und den Mittelstand – Kosten unbekannt.

Schuldenbremse nicht mehr zeitgemäß

Und jetzt reden wir noch gar nicht über die knapp 90 Mrd. Euro zusätzlich, mit denen in den kommenden Jahren das Schienennetz der Bahn erneuert werden sollte. Oder die 20 Mrd. Euro für mehrere riesige Chipfabriken, mit denen sich Deutschland unabhängig machen will von Lieferungen aus Asien. Oder die 10 Mrd. Euro für den Ausbau der Wasserstoffversorgung – die 2021 noch ein CDU-Wirtschaftsminister auf den Weg brachte. Und auch nicht von den anderen angedachten Förderprogrammen für die Heizungs-, Solar-, und Windstrombranche. Soll das alles doch nicht kommen? Und machen wir stattdessen einfach weiter wie bisher? 

Die Rede von den Prioritäten, der Unterscheidung zwischen dem Wichtigen und dem Unwichtigen, ist immer gut für einen Oppositionsführer – solange man nichts davon selbst liefern muss. Selbst wenn man Elterngeld, Mütterrente, Kindergrundsicherung und das Bürgergeld streichen würde, käme man nicht auf die Beträge, die nötig sind, um die Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur und der Energieversorgung anzuschieben. 

Schon vor dem Urteil dämmerte daher auch CDU-Politikern, dass die heutige Schuldenbremse im Grundgesetz nicht mehr zeitgemäß ist. Helge Braun, seinerzeit Kanzleramtsminister unter Angela Merkel, wagte während der Pandemie 2021 einen ersten Vorstoß: „Die Schuldenbremse ist in den kommenden Jahren auch bei ansonsten strenger Ausgabendisziplin nicht einzuhalten“, schrieb der CDU-Politiker in einem Gastbeitrag für das „Handelsblatt“.  Deshalb sei es sinnvoll, „eine Erholungsstrategie für die Wirtschaft in Deutschland mit einer Grundgesetzänderung zu verbinden“, so Braun damals. 

Als Chef des Haushaltsausschusses, der Braun heute ist, jubilierte er diese Woche nach dem Urteil, die Verfassungsrichter hätten „die Schuldenbremse gerettet“. 

Ende vergangenen Jahres, auf dem Höhepunkt der Gaskrise, verlor auch Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder kurzzeitig die Nerven: „Wir sind sehr für vernünftige Finanzen. Aber wenn eine Megakrise droht wie jetzt, dann muss am Ende Abwägung stattfinden, eine Abwägung zwischen Ordnungsrecht und eine Abwägung zwischen Hilfe“, sagte Söder. „Aus meiner Sicht geht dann die Hilfe für Land, Leute und Wirtschaft vor Prinzipienreiterei.“

Eine Reform muss her

Oder Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner, auch er von der CDU: „Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass wir in unserem Land einen riesigen Investitionsbedarf haben“, sagte Wegner erst vor wenigen Wochen, „die Schuldenbremse darf keine Zukunftsbremse sein.“ Klar gab es umgehend einen Rüffel aus der Parteizentrale, aber man kann davon ausgehen, dass Wegner das wenig beeindruckt. Er nutzt in Berlin selbst Schattenhaushalte, um in der Stadt endlich seit Jahrzehnten marode Schulen zu sanieren. Im regulären Haushalt hätte es dafür selbst nach CDU-Prioritäten keinen Spielraum gegeben. 

Tatsächlich haben viele in der Union längst begriffen, dass sie mit der heutigen Schuldenbremse im Grundgesetz nicht mehr weit kommen werden. Ihre Funktionsweise ist nicht nur extrem intransparent – sie ignoriert zudem den Unterschied zwischen Investitionen, die für Jahrzehnte halten und den üblichen Ausgaben für Dies und Das, die jedes Jahr einfach weg sind. Die Schuldenbremse gehört, wenn schon nicht abgeschafft, dann wenigstens reformiert. Alles andere ist der dritt- oder viertgrößten Volkswirtschaft der Erde, die Deutschland je nachdem wie man rechnet nun mal ist, absolut unwürdig. Oder, wie der streitbare Ökonom Rudi Bachmann, beileibe kein Linker, gestern sarkastisch auf X, vormals Twitter, feststellte: „Wenn man eine Schuldenbremse in die Verfassung schreibt, dann endet man damit, dass Verfassungsjuristen Fiskalpolitik betreiben. Tja, schön blöd.“

Das Mindeste in dieser Lage wäre es, Investitionen in und Förderprogramme für die Modernisierung der Infrastruktur generell von der Schuldenbremse auszunehmen. Das Argument ist einfach: Von den neuen Autobahnbrücken auf der A45 oder den modernisierten Bahnstrecken wird längst nicht nur die heutige Generation profitieren – sondern weit mehr noch die künftigen. Daher ist es nur gerecht, diese Finanzierung über mehrere Generationen zu verteilen. Dies überhaupt zu können, ist der fundamentale Unterschied zwischen einem privaten und einem staatlichen Schuldner. Das weiß auch Friedrich Merz, der sich ja viel auf seine Wirtschaftskompetenz zugutehält.

Das Argument dagegen (vor allem aus der FDP), jetzt lieber das Wachstum anzukurbeln, um damit für höhere Steuereinnahmen zu sorgen, ist nicht wirklich ein Widerspruch. Denn auch das höhere Wachstum setzt Anreize voraus, die in der Regel Geld kosten – und sei es in Form niedrigerer Steuern. Man wird beides tun müssen, wenn man verhindern will, dass Deutschland noch weiter abrutscht: Reformen auf der Angebotsseite, plus mehr staatliche Investitionen und Anreize für private Investitionen. Beides aber ist mit der Schuldenbremse, wie sie jetzt das Verfassungsgericht festgezurrt hat, unmöglich.  

Seit dieser Woche kennt Merz seine Aufgabe als künftiger Kanzler

Jede Regierung hat ihre historischen Aufgaben. Es war die erste rot-grüne Koalition, die einen Kriegseinsatz der Bundeswehr im Ausland beschloss. Sie führte auch eine kapitalgedeckte private Altersvorsorge ein. Beides gegen ihre eigenen alten Überzeugungen und große Teile der eigenen Klientel. Es war die zweite rot-grüne Koalition, die mit der Agenda 2010 einen Großumbau des Sozialstaates auf den Weg brachte – erneut gegen weite Teile der eigenen Klientel. Es war ein SPD-Sozialminister, der die Rente mit 67 durchsetzte. Es war eine CDU-Kanzlerin, die der Homoehe zum Durchbruch verhalf. Und es war ein SPD-Kanzler, der vor 18 Monaten die Zeitenwende verkündete und eine massive Aufrüstung der Bundeswehr auf den Weg brachte. 

Historische Aufgaben bestehen immer darin, mit dem zu brechen, was man viele Jahre lang – besonders gerne in der Opposition – vor sich hergetragen hat. Für Friedrich Merz, sollte er 2025 tatsächlich antreten und die Wahl gewinnen, ist diese historische Aufgabe mit dieser Woche schon jetzt absehbar. 

Mehr zum Thema

Neueste Artikel

VG-Wort Pixel