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Kommentar Putins Spiel mit dem Feuer

Kremlchef Putin mimt den starken Mann. Doch einen Wirtschaftskrieg mit dem Westen wird er verlieren. Von Jeffrey D. Sachs
Jeffrey D. Sachs ist Professor für nachhaltige Entwicklung, Professor für Gesundheitspolitik und Gesundheitsmanagement sowie Direktor des Earth Institute der Columbia University
Jeffrey D. Sachs ist Professor für nachhaltige Entwicklung, Professor für Gesundheitspolitik und Gesundheitsmanagement sowie Direktor des Earth Institute der Columbia University

Die Gefahren der Ukraine-Krise lassen sich nicht übertreiben. Der russische Präsident Wladimir Putin stachelt offen und im Geheimen den Separatismus in der Ost-Ukraine an, und er hat unter völliger Umgehung des Völkerrechts das einseitige Recht Russlands geltend gemacht, dort zu intervenieren. Russlands provokante Politik bringt das Land auf Kollisionskurs mit dem Westen.

Putin hat seine Sicht bei einem Fernsehauftritt erläutert: Russlands aktuelle internationale Grenzen seien vorläufiger Art und geschichtlichen Zufällen wie der Übertragung der Krim von Russland an die Ukraine im Jahre 1954 oder der Übertragung russischer Gebiete an die Ost-Ukraine in den 1920er Jahren geschuldet. Putin macht geltend, dass es – insbesondere angesichts der Willkür der bestehenden Grenzen – Russlands Recht und Pflicht sei, die ethnischen Russen in den benachbarten Ländern zu verteidigen. Wenn die ethnischen Russen eine Rückkehr nach Russland verlangten, so Putin, dann müsse Russland ihrem Ruf Gehör schenken. Putin erinnerte seine Zuhörer demonstrativ, dass die Ost-Ukraine in zaristischer Zeit „Novorossiya“ (Neu-Russland) genannt wurde, und insinuierte damit eindeutig, dass sie auch wieder Novorossiya sein könnte.

Russlands Präsident Putin demonstriert Stärke
Russlands Präsident Putin demonstriert Stärke
© Getty Images

Anscheinend glaubt Putin, dass unnachgiebiger Druck und Ansprüche gegenüber den Nachbarländern mit dem Ziel, deren Souveränität zu untergraben und sie zur Erfüllung russischer Forderungen zu zwingen, zu einer Stärkung Russlands führen werden, das dem Westen dann besser entgegentreten könne. In der jüngsten Vergangenheit hat Russland die Militärinterventionen der USA und der Nato in Libyen, Syrien und Serbien mit der Begründung, der Westen verletzte die Souveränität dieser Länder, scharf abgelehnt. Jetzt macht Putin unter dem Vorwand, lediglich die Rechte der ethnischen Auslandsrussen zu verteidigen – und zwar bis einschließlich ihres Rechts auf Sezession und zum Beitritt zu ihrem russischen Heimatland – das Recht geltend, die Souveränität der benachbarten Länder zu ignorieren.

Druck des Westens wird zunehmen

Putin hofft zweifelsohne, vor Ort Fakten zu schaffen – so wie auf der Krim –, ohne eine ernste Reaktion des Westens zu provozieren. Selbst ohne Truppeneinmarsch kann Russland Drohungen, die demonstrative Zurschaustellung russischer Militärmacht, Geheimoperationen und eine hitzige Rhetorik nutzen, um die Nachbarländer zu destabilisieren. Das könnte für Russland reichen, seine außenpolitischen Ziele zu erreichen, zu denen auch die Fügsamkeit seiner Nachbarn gehört.

Wahrscheinlich jedoch ist, dass Putins Abenteuerpolitik zu einem für Russland sehr schlechten Ende führen wird. Obwohl der Westen zu Recht zögert, sich außerhalb des Nato-Gebietes in eine militärische Konfrontationen mit Russland hineinziehen zu lassen, und obwohl der Westen auch nur widerstrebend Wirtschaftssanktionen einleitet, hat Putins Vorgehen in den USA und in Europa eine starke und sich weiter verstärkende Gegenreaktion ausgelöst. Die Reaktion des Westens wird sich dramatisch verstärken, falls Russland – egal unter welchem Vorwand – grenzübergreifend Truppen einsetzt; sollte Russland subtilere Methoden der politischen Destabilisierung einsetzen, wird sich der westliche Druck allmählicher aufbauen, aber aufbauen wird er sich.

Die bestehenden Handels-, Investitions- und Finanzbeziehungen zwischen Russland und dem Westen leiden bereits. Neue Investitionsprojekte und Joint-Ventures werden auf Eis gelegt. Kredite westlicher Investoren an russische Unternehmen werden fällig gestellt. Die russischen Banken und Unternehmen werden eine zunehmende Kreditverknappung erleben.

Russland steht als Verlierer fest

Kurzfristig verfügt Russland über mehr als ausreichende Devisenreserven, um Kapitalabflüsse zu kompensieren, doch schon innerhalb von ein paar Monaten wird die Umkehr der Kapitalströme zu schmerzen beginnen. Nach Russlands gewaltsamer Annexion der Krim ist es nahezu unvorstellbar, dass normale Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und dem Westen eine russische Intervention, Subversion oder Annexion weiterer Teile der Ukraine überleben würde.

Anders ausgedrückt: Im Falle eines neuerlichen Kalten Krieges, der zunehmend wahrscheinlicher scheint, wäre Russland der langfristige wirtschaftliche Verlierer. Die Europäische Union kann sicher ohne Einfuhren von russischem Erdgas überleben, selbst wenn der Zufluss vollständig abgeschnitten würde. Russlands Gasexporte nach Europa stellen weniger als zehn Prozent des Primärenergieverbrauchs der EU dar. Russland andererseits würde erhebliche Einnahmeverluste erleiden.

Putin glaubt scheinbar, dass Russland eine Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zum Westen durch Stärkung seiner Wirtschaftsbeziehungen zu China ausgleichen kann. Doch sind Technologien und Wirtschaft global zu stark vernetzt, um die Welt in Wirtschaftsblöcke zu unterteilen. China weiß, dass sein langfristiger wirtschaftlicher Wohlstand von guten Wirtschaftsbeziehungen zu den USA und Europa abhängt. Putin scheint diesen Punkt nicht zu verstehen – oder auch nur zu begreifen, dass der Zusammenbruch der Sowjetwirtschaft durch die Isolierung des Landes von den technologisch fortschrittlichen Volkswirtschaften bedingt war.

Russlands künftige wirtschaftliche Stärke ist von seiner Fähigkeit abhängig, Schlüsselbranchen wie die Luftfahrt, Hochgeschwindigkeitszüge, die Automobilindustrie, den Maschinenbau und die Schwerindustrie technologisch aufzurüsten. Das lässt sich nur erreichen, wenn russische Unternehmen stärker in die globalen Fertigungsnetze eingebunden werden, die sie mit den modernste Technologie und hochentwickelte Technik nutzenden deutschen, japanischen, amerikanischen und chinesischen Unternehmen verknüpfen.

Droht der Ukraine das syrische Schicksal?

Natürlich könnten sich die Dinge noch deutlich verschlechtern. Ein neuer Kalter Krieg könnte sich nur allzu leicht in einen heißen Krieg verwandeln. In den USA rufen schon jetzt viele danach, die Ukraine zu bewaffnen, um Russland abzuschrecken. Doch während militärische Abschreckung manchmal funktioniert, sollte der Westen den Schwerpunkt auf wirtschaftliche und finanzielle Gegenmaßnahmen legen, statt militärisch auf Russlands Provokationen zu reagieren. Militärische Reaktionen könnten ein Desaster auslösen und die Ukraine beispielsweise in ein Schlachtfeld von der Art Syriens verwandeln – mit vielen tausenden von Toten.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Nato ihre eigenen Mitglieder wenn nötig verteidigen wird. Doch sollten Russlands Kriegslüsternheit und erbärmliches Verhalten nicht dazu führen, dass westliche Hardliner die Oberhoheit über die politische Debatte an sich reißen. Die Strategien dieser Hardliner führten zu anhaltenden Konflikten in Afghanistan, dem Irak, Libyen und Syrien mit vielen Toten, nicht jedoch zu sinnvollen politischen oder wirtschaftlichen Lösungen in den betroffenen Ländern. Krieg ist nicht die Politik mit anderen Mitteln. Krieg ist Chaos und Leid.

Putins Vorgehen in der Ukraine ist sicherlich auch stark von innenpolitischen Überlegungen geprägt. Er nutzt seine Abenteuerpolitik im Ausland, um seine politische Basis im Inland zu stärken. Die russische Wirtschaft lahmt, und die Bevölkerung hat genug von den Repressionen, von der allgegenwärtigen Korruption im Lande gar nicht zu reden. Russlands Annexion der Krim und seine Drohung, in der Ost-Ukraine einzumarschieren, scheinen enorm populär zu sein. Es bleibt eine erschreckende Realität, dass die Politik den Krieg oft als Antidot gegen interne Schwäche betrachtet.

Sowohl Russland als auch der Westen haben in den letzten Jahren Schindluder mit dem Völkerrecht getrieben. Der Westen hat die nationale Souveränität Serbiens, Afghanistans, Iraks, Libyens und Syriens verletzt. Nun spielt Russland mit erschütternder Dreistigkeit in seiner eigenen Nachbarschaft dieselbe Karte aus und rechtfertigt seine Handlungen dabei häufig mit Verweis auf westliche Präzedenzfälle.

Doch Russlands wahre langfristige Interessen liegen im Multilateralismus, in der Einbindung in die Weltwirtschaft und der Herrschaft des Völkerrechts. Putins aktueller Kurs strotzt vor ernsten Gefahren. Er unterminiert Russlands wirtschaftliche Aussichten und konfrontiert zugleich die Welt mit einer wachsenden Kriegsdrohung. Unsere einzige Hoffnung ist, dass alle Seiten zu den Grundsätzen des Völkerrechts zurückkehren, die sie schon allzu lange aufgegeben haben.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2014.
 www.project-syndicate.org

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