Anzeige

Aktien Putins Endspiel

Russlands Präsident täuscht Stärke nur vor. Seine Herrschaft könnte früher vorbei sein, als wir glauben. Von Robert Skidelsky
Robert Skidelsky
Robert Skidelsky
© Getty Images

Robert Skidelsky ist Mitglied des britischen Oberhauses und emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Warwick.

Wladimir Putin mag für seine Ukraine-Politik die Unterstützung von 80 Prozent der Russen besitzen, vielleicht auch nicht. Immer klarer wird jedenfalls, dass er mehr gegessen hat, als er verdauen kann. Die Frage lautet: An welchem Punkt wird seine Position als Präsident unhaltbar?

Lassen wir die Moral und den geopolitischen Hintergrund der Verwicklungen in der Ukraine mal außen vor. Ich glaube, die Sichtweise der Russen, der Westen habe die nachkommunistische Schwäche Russlands ausgenutzt, um sich historische Gebiete des Landes einzuverleiben, ist gerechtfertigt. Die Monroe-Doktrin mag mit dem aktuellen internationalen Recht nicht vereinbar sein, aber alle Mächte, die stark genug sind, eine strategische Interessenssphäre durchzusetzen, verhalten sich so.

Auch glaube ich, dass an Putins Behauptung, eine multipolare Welt sei für das Aufblühen der Menschheit hilfreicher als eine unipolare, etwas dran ist. Keine einzelne Macht oder Koalition ist weise oder selbstlos genug, um universale Herrschaft beanspruchen zu können.

Russland ist zu schwach für den Westen

Also sollte es keine Überraschung sein, dass Russland und andere Länder mit dem Aufbau einer institutionellen Struktur für mehr Multipolarität begonnen haben. 2001 wurde die Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit gegründet, zu der Russland, China und vier frühere zentralasiatische Sowjetrepubliken gehören. Im letzten Monat haben die fünf BRICS-Länder – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – eine neue Entwicklungsbank ins Leben gerufen und einen Kontingentreservefonds gegründet, um die Quellen der offiziellen Kreditvergabe an Entwicklungs- und Schwellenländer zu diversifizieren.

Die „nicht an Bedingungen geknüpfte“ BRICS-Politik stellt für die bedingte Kreditvergabe durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds eine Herausforderung dar, auch wenn sie noch nicht getestet wurde. In der Tat ist es kaum vorstellbar, dass die chinesische Führung Kredite an Länder vergibt, die beispielsweise Taiwan anerkennen oder die Unabhängigkeitsbestrebungen Tibets akzeptieren.

Aber Tatsache bleibt, dass Russland für eine weitere Herausforderung des Westens zu schwach ist, zumindest auf die Art, wie es in der Ukraine geschieht. Russlands BIP beträgt etwa 2000 Mrd. Dollar, und seine Bevölkerung von 143 Millionen Menschen nimmt stark ab. Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union haben zusammen ein BIP von etwa 34.000 Mrd. Dollar und insgesamt 822 Millionen Menschen, wobei die US-Bevölkerung stark steigt. Das bedeutet, dass der Westen Russland viel stärker schaden kann als umgekehrt.

Sogar die Sowjetunion auf der Höhe ihrer Stärke war eine eingleisige Supermacht. Bei einer Wirtschaftsleistung von etwa einem Viertel der amerikanischen konnte sie ein gewisses militärisches Gleichgewicht nur halten, indem sie einen viermal so großen Anteil ihres Volkseinkommens für Verteidigung ausgab wie die USA – auf Kosten des Lebensstandards der einfachen Bürger.

Putin kann seine Beute nicht behalten

Heute ist das Machtverhältnis noch ungleicher. Russlands Wirtschaft ist schwächer, und die Rüstung des Landes setzt Rost an. Es verfügt weiterhin über eine beachtliche Nuklearkapazität, aber dass Russland sie zur Sicherung seiner Ziele in der Ukraine einsetzt, ist undenkbar.

Also zeichnet sich eine Endphase ab, in der Putin weder seine Beute – die Krim und die Kontrolle über die russischsprachigen Teile der östlichen Ukraine – behalten kann, noch in der Lage ist nachzugeben. Russland wird seine Beute als Bedingung für eine Normalisierung seiner Beziehungen mit dem Westen wieder abgeben müssen. Aber Putin wird vermutlich versuchen, die ostukrainischen Separatisten so lange wie möglich zu stützen – vielleicht mit als humanitärem Beistand getarnter militärischer Unterstützung – und er wird sich strikt weigern, die Krim aufzugeben.

Das wird zu einer weiteren Eskalation der westlichen Sanktionen führen: Einschränkungen der Gasexporte, generelle Exporteinschränkungen, Ausschluss aus der Welthandelsorganisation, Aberkennung der FIFA-Fußballweltmeisterschaft 2018 und so weiter. Das in Verbindung mit der Verschärfung der bestehenden Sanktionen wie dem Ausschluss russischer Banken von westlichen Kapitalmärkten wird zu ernsten Engpässen, sinkendem Lebensstandard und großen Problemen für die russische Eigentümerklasse führen.

Die natürliche Reaktion der russischen Öffentlichkeit wird darin bestehen, sich hinter ihren Anführer zu stellen. Aber mag die Unterstützung für Putin auch breit sein, tief ist sie nicht. Sie findet vor der Debatte über die Kosten von Putins Maßnahmen statt und nicht danach. Und diese Debatte wird durch die staatliche Kontrolle der Medien und der Unterdrückung der Opposition zum Verstummen gebracht.

Gibt der Westen Putin noch eine Chance?

Es ist natürlich und richtig, über mögliche Kompromisse nachzudenken: eine garantierte Neutralität der Ukraine, größere regionale Autonomie innerhalb einer föderalen Ukraine, einer temporäre internationale Verwaltung der Krim zur Überwachung eines Volksentscheids über ihre Zukunft und so weiter.

Die Frage ist nicht, welchen Teil eines solchen Pakets Putin akzeptieren würde, sondern ob es ihm überhaupt angeboten wird. Der Westen glaubt ihm kein Wort mehr. US-Präsident Barack Obama hat ihn öffentlich der Lüge bezichtigt. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die vorher Putins stärkste Unterstützerin in Europa war, hat ihn angeblich als verrückt bezeichnet. (Offensichtlich war das Maß für sie voll, als er versuchte, die Schuld für den Absturz von Flug 17 der Malaysia Airlines auf die ukrainische Regierung zu schieben.)

Alle Politiker lügen und heucheln zu einem gewissen Grad, aber das Ausmaß der Kreml-Desinformation war von epischem Umfang. Also müssen wir uns die Frage stellen: Wird der Westen bereit sein, mit Putin Frieden zu schließen?

Staatsführer, deren außenpolitische Abenteuer in einer Niederlage enden, überleben normalerweise nicht lange im Amt. Entweder werden sie anhand formeller Verfahren entthront, wie es 1964 in der Sowjetunion mit Nikita Chruschtschow durch das Zentralkomitee geschah, oder es werden informelle Methoden angewandt. Putins Machtelite wird Risse bekommen – und in der Tat könnte dieser Prozess schon begonnen haben. Der Rücktrittsdruck auf ihn wird größer werden. Es ist unnötig, dass das Land mit ihm gemeinsam untergeht, wird man sagen.

Solch ein Szenario, das vor ein paar Monaten noch unvorstellbar war, könnte sich im Zuge der Endphase des ukrainischen Dramas bereits zuspitzen. Die Ära Putin könnte schneller vorbei sein, als wir denken.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Copyright: Project Syndicate, 2014

Neueste Artikel