Ukraine-Krieg „Auch durch schärfere Sanktionen ist kein politischer Wandel zu erwarten“

Ob die Sanktionen Putin wirklich zum Umdenken bewegen können, ist offen, sagt Yalçin.
Ob die Sanktionen Putin wirklich zum Umdenken bewegen können, ist offen, sagt Yalçin.
© IMAGO / ZUMA Wire
Wie wirksam sind die Sanktionen gegen Russland und können sie den Kremlchef Putin zum Umdenken bewegen? Der Ökonom Erdal Yalçin beschäftigt sich intensiv mit Sanktionen. Er sagt: Sanktionen werden den Krieg nicht beenden, sie sind vielmehr ein indirekter Mechanismus
Erdal Yalçin ist Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der HTWG Konstanz und Research Affiliate in der Trade Policy Task Force des IfW Kiel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören der internationale Welthandel, internationale Sanktionspolitik und europäische Integration. Gemeinsam mit Kollegen hat er in der „Global Sanctions Database“ weltweite Wirtschaftssanktionen zwischen 1950 und 2019 gesammelt und erforscht.

Capital.de: Gegen Russland sind inzwischen so viele Sanktionen in Kraft wie gegen kein anderes Land. Sagt die Anzahl der Sanktionen etwas über deren Wirkung aus?

ERDAL YALÇIN: Nein, nicht unbedingt. In der Tat gibt es gegen Russland eine große Brandbreite an Sanktionen. Das liegt daran, dass man auf sogenannte „smart sanctions“ setzt, also auf sehr gezielte Sanktionen. Man hätte auch die Möglichkeit, Russlands Wirtschaft durch ein Embargo insgesamt so weit wie möglich zu isolieren. Das würde bedeuten, die Wirtschaftsbeziehungen nicht nur zu reduzieren, sondern das Land auch durch Flugsperren und Hafensperren komplett abzuschotten. Das wäre dann nur eine einzige, aber sehr schwerwiegende Maßnahme.

Warum setzt man in diesem Fall auf viele Sanktionen anstelle eines Embargos?

Historisch hat sich gezeigt, dass ein Embargo zwar wirtschaftlich großen Schaden anrichtet: Der Handel reduziert sich um bis zu 90 Prozent, die Wirtschaftsleistung sinkt. Gleichzeitig beobachtet man, dass die Bevölkerung massiv unter solchen umfassenden Sanktionen leidet. Das führt zu einer Frustration in der Bevölkerung, die dem Ausland, das die Sanktionen verhängt, dann tendenziell negativ gegenübersteht – und sich hinter die autoritären Strukturen des eigenen Landes stellt. Die Politik muss also abwägen: Lohnen sich umfassende Sanktionen oder schüren wir dadurch Aggression gegen den Westen?

Wie erfolgreich sind die derzeitigen Sanktionen?

Man muss genau differenzieren, was die Sanktionen bezwecken sollen. Im Falle Russlands will man vor allem gezielt das russische Regime treffen, also Wladimir Putin selbst, Personen, die ihm nahestehen und relevante Infrastruktur, von der diese Menschen profitieren. Daher waren die russischen Oligarchen eines der ersten Ziele der Sanktionen. Die Oligarchen können ihre Konten nicht mehr nutzen, es gibt Reisebeschränkungen. Natürlich gibt es Schlupflöcher, aber das primäre Ziel hat man damit erreicht.

Können solche Sanktionen auch einen Krieg beenden?

Die Sanktionen zielen nicht direkt darauf ab, einen Krieg zu beenden. Man hofft auf einen indirekten Mechanismus: Vereinfacht ausgedrückt, die Oligarchen werden bestraft und bringen dann Putin dazu, seine Politik zu ändern. Direkte Auswirkungen auf den Krieg haben Sanktionen nur dann, wenn kritische Produkte für die Aufrechterhaltung der Militärinfrastruktur sanktioniert werden und die Kriegsfähigkeit des Landes darunter leidet.

Kann man mit Wirtschaftssanktionen dann überhaupt einen Politikwechsel erreichen?

Es gibt durchaus Fälle, in denen das in der Vergangenheit funktioniert hat. Wir haben in der „Global Sanctions Database“ alle weltweiten Sanktionen zwischen 1950 und 2019 gesammelt. Schauen wir uns alle Sanktionen an, die das Ziel hatten, einen territorialen Konflikt zu beenden, liegt die Erfolgswahrscheinlichkeit bei etwa 30 Prozent. Das hört sich zunächst einmal hoch an, aber darunter sind viele Konflikte mit kleineren Ländern. Auf Russland – das territorial größte Land, eine Atommacht und dazu noch ein Land, das mit Blick auf Energie und Lebensmittel sehr unabhängig ist – lässt sich das nicht übertragen. Für ein solches Land gibt es schlicht historisch keinen Präzedenzfall.

Welche Faktoren entscheiden grundsätzlich, ob Sanktionen erfolgreich sind?

Die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen. Schaut man sich aber Fälle aus der Vergangenheit an, in denen Sanktionen Erfolg hatten, wie Südafrika oder den Irak, wird eines klar: Es gab in beiden Fällen Maßnahmen, die über reine Wirtschaftssanktionen hinausgingen. Im Irak gab es eine militärische Intervention, in Südafrika wurde das Apartheid-Regime politisch isoliert und die Gegenbewegung im Land selbst militärisch unterstützt. Wir sprechen hier von Einzelfällen, die Erkenntnisse auf Russland zu übertragen, ist also schwierig. Doch es kristallisiert sich heraus, dass bei Kriegs- und Territorialkonflikten Wirtschaftssanktionen von militärischen Maßnahmen flankiert werden müssen – und es ist keine einzelne Maßnahme, die über Erfolg und Misserfolg entscheidet, sondern die Komposition der Maßnahmen.

Über eine Maßnahme wird in Deutschland gerade besonders heftig debattiert: ein Gas-Embargo. Für wie sinnvoll halten sie diese Maßnahme?

Europa und insbesondere Deutschland sind enorm wichtige Abnehmer von russischem Gas. Sollte Deutschland also keines mehr kaufen, wäre der negative Schock für Russlands Wirtschaft groß. Ob er aber groß genug ist, damit Putin seine Politik ändert und den Ukraine-Krieg beendet, ist offen. Dafür spielt es auch eine Rolle, ob andere Länder, wie zum Beispiel Indien, weiter Gas kaufen. Dann würde die russische Wirtschaft zwar schlechter laufen, aber sie würde weiterlaufen. Die fehlende Einigkeit in der Weltengemeinschaft ist ein großer Unsicherheitsfaktor.

Eine Frage, die immer wieder diskutiert wird: Können wir uns das überhaupt leisten?

Makroökonomische Studien gehen davon aus, dass die deutsche Wirtschaft dadurch um fünf Prozent schrumpfen würde. Selbst wenn es zehn Prozent wären, das ließe sich kompensieren. Würde man Russland aber ganz isolieren, wäre auch die Ernährungssicherheit in Gefahr, insbesondere in afrikanischen Ländern: Russland und die Ukraine sind zusammen für einen Drittel der weltweiten Weizenexporte verantwortlich. Wenn dieser Handel wegfällt, sprechen wir nicht mehr über Wirtschaftswachstum oder Bequemlichkeit, sondern über Hunger. Die Politik ist also gut beraten, auch solche Faktoren zu berücksichtigen.

Deutschland versucht, bald von russischen Energielieferungen unabhängig zu werden – eine Entkopplung, die auch langfristig bestehen bleiben dürfte. Welche Folgen hat das?

Das ist essenziell, denn mit dem politischen System und der derzeitigen Führung in Russland muss man jederzeit davon ausgehen, dass das Risiko eines militärischen Konfliktes besteht. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein, dass man sich nicht in eine eindimensionale Abhängigkeit begeben sollte. Die Politik sagt, dass wir uns energetisch von Russland entkoppeln werden. Mittelfristig drohen Russland also schwerwiegende ökonomische Konsequenzen. Einige Wissenschaftler sagen, dass, wenn die entsprechenden Sanktionen wirken würden, oft schon die Androhung dieser Sanktionen ausreicht, um einen politischen Wandel herbeizuführen. Russland weiß aber, dass es mittelfristig isoliert wird und macht trotzdem weiter. Das ist ein Zeichen, dass auch durch schärfere Sanktionen kein politischer Wandel zu erwarten ist.

Sie haben von fehlender Einigkeit als Unsicherheitsfaktor gesprochen. Wie wichtig ist diese Einigkeit für den Erfolg von Sanktionen?

Um sinnvollen Druck aufzubauen, braucht es eine breite Übereinstimmung. Im Fall von Russland sieht man, dass zum Beispiel China und Indien nicht bereit sind, eine Eskalation der Sanktionen mitzutragen. Das ermöglicht es Russland, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Sanktionen bis zu einem gewissen Grad zu dämpfen. In der Vergangenheit waren diese Länder eher bereit, Sanktionen mitzutragen, weil sie nicht so abhängig von russischem Weizen, Öl und Gas waren. Heute ist das anders: Die globalen Wertschöpfungsketten reduzieren die Motivation vieler Nationen, Sanktionen zu erlassen, wenn sie nicht selbst von einem Konflikt betroffen sind. Denn die Sanktionen schaden ja nicht nur dem sanktionierten Land, sondern auch dem Land, das die Sanktionen verhängt. Das zeigt der Fall des Iran, der ab 2006 stärker sanktioniert wurde. Der größte wirtschaftliche Verlierer damals war Deutschland.

Ist es mit zunehmender Globalisierung schwieriger geworden, zielgenaue Sanktionen zu erlassen, die nicht auch anderen Ländern schaden?

Aufgrund der zunehmenden Vernetzung der Wirtschaft greift man auf jeden Fall stärker zu gezielten Sanktionen, denn die Konsequenzen umfassender Embargos sind komplexer geworden. Es ist auch schwieriger, Sanktionen aufrechtzuerhalten. Früher gab es eine dominierende Leitwährung, heute gibt es Ausweichmöglichkeiten. Russland versucht zum Beispiel, jetzt enger mit China zu kooperieren. Wir beobachten gerade, wie sehr sich einzelne Nationen entkoppeln und mit China parallele Strukturen aufbauen, um nicht mehr von einem Interessenblock abhängig zu sein. Es gibt einen Systemwettbewerb. Bestimmte Gruppen arbeiten wieder enger zusammen: Europa und Amerika positionieren sich anders als China, afrikanische Länder positionieren sich noch einmal anders. Wir haben es nicht mit einem kalten Krieg zu tun, sondern mit einer komplexen Welt, die sich fragmentiert.

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