Die Handelspolitik der USA wird seit der Wirtschafts- und Finanzkrise vermehrt als geopolitisches Instrument verstanden und stärker in den Dienst innenpolitischer Ziele gestellt. Der damalige US-Präsident Barack Obama rückte China in das Zentrum seiner Überlegungen und wollte das zum Systemrivalen gewordene Reich der Mitte mit großen Wirtschaftsallianzen – dem transatlantischen TTIP-Projekt und dem pazifischen TPP-Bündnis – eingrenzen. In seiner Amtszeit nahm die Skepsis gegenüber der Welthandelsorganisation (WTO), die China geschickt für seinen handelspolitischen Siegeszug nutzte, zu.
Der ehemalige Präsident und erneute republikanische Amtsanwärter Donald Trump fügte dem Ziel der China-Eingrenzung ein Antiglobalisierungsnarrativ hinzu. Die USA würde von allen Handelspartnern übervorteilt, was der amerikanischen Mittelklasse einen wirtschaftlichen Abstieg beschert hätte. Unter Trumps Ägide wurde die US-Handelspolitik rücksichtslos unilateral. Allianzen, etwa mit der EU, oder der internationale völkerrechtliche Rahmen wurden als nutzlose Eingrenzungen des amerikanischen Lösungsraumes gesehen.
Trump hob Obama-Projekte auf
Die Projekte der Obama-Administration wurden aufgegeben, die Schiedsgerichtsbarkeit der WTO endgültig lahmgelegt. Stattdessen wurde versucht, durch eine aggressive Zollpolitik Zugeständnisse der Handelspartner zu erpressen. Es kam zu einer Reihe von „Deals“, etwa mit Kanada und Mexiko, mit Japan und sogar mit China. Gemessen am Leistungsbilanzdefizit der USA war diese Herangehensweise allerdings alles andere als erfolgreich.
Unter Präsident Joe Biden änderte sich die Rhetorik, die grundlegende Ausrichtung der Politik allerdings nicht. Die Rivalität mit China verstärkte sich eher noch. Die WTO wurde weiter missachtet. Neue protektionistische Instrumente, vermeintlich zum Nutzen der arbeitenden Mittelklasse, wurden angewandt. All das trug Vize-Präsidentin und demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris mit.
Was folgt daraus für Europa? Die USA werden in den nächsten vier Jahren keine Politik des Freihandels betreiben. Der Konflikt mit China wird weiterhin das Handeln bestimmen, mögliche Eskalationsszenarien inklusive. Das Leiden der WTO wird weitergehen.
USA ist Europas wichtigster Handelspartner
Die USA sind für die Europäische Union der wichtigste Wirtschaftspartner, vor dem Vereinigten Königreich, der Schweiz und China. Daher ist der amerikanische Protektionismus für uns eine Herausforderung. Es geht dabei nicht nur um die bilateralen Beziehungen. Vielmehr ist die fortschreitende Fragmentierung der Weltwirtschaft die größere Bedrohung.
Die bilaterale Leistungsbilanz der EU mit den USA zeigt im Jahr 2023 Einnahmen von 1161 Mrd. Euro und Ausgaben von 1120 Mrd. Sie ist also, anders als oft behauptet, beinahe ausgeglichen. Zwar verzeichnet die EU im Güterhandel einen deutlichen Überschuss von 228 Mrd. Euro – deutschen Maschinen und Autos sei Dank. Im Dienstleistungshandel liegen die USA mit 115 Mrd. vorne – was an den digitalen Dienstleistungen, Finanzen und der Unterhaltungsindustrie liegt. Und bei den Primäreinkommen (vor allem Erträge von Investitionen) haben die USA einen Vorsprung von 72 Mrd. Euro.
Die USA können die EU bei Industriewaren unter Druck setzen. Die EU kann das aber im Dienstleistungssektor ebenso. Falls die USA mit Zöllen auf europäische Industriewaren drohen, hat die EU mit einer Steuer auf digitale Produkte aus den USA eine glaubwürdige Gegendrohung parat. Schon einmal hat ein solches „Gleichgewicht des Schreckens“ den handelspolitischen Frieden bewahrt. Im Sommer 2018 verzichtete Trump auf die von ihm angedrohten Autozölle, und der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker stellte die europäische GAFA-Steuer (auf Google, Amazon, Facebook, Apple) zurück.
EU sollte USA ein Angebot machen
Aktuelle Simulationsrechnungen zeigen, dass bei einer bilateralen Eskalation sowohl die EU als auch die USA verlieren; die EU aber deutlich stärker. Sie sollte daher ein Angebot machen, von dem die USA profitieren würden: die Abschaffung von Zöllen im Industrie- und Agrarbereich. Damit vermeidet die EU nicht nur eine schmerzhafte Eskalation, sie würde sogar einen kleinen eigenen Nettovorteil lukrieren.
Die EU-Leistungsbilanz zeigt außerdem: Im Jahr 2023 machten die Umsätze mit den USA 2281 Mrd. Euro aus; jene mit China „nur“ 877 Mrd. Euro. Auch wenn die zahlreichen Amerikaskeptiker in Deutschland das nicht gerne hören: Für die EU ist eigentlich sonnenklar, auf welcher Seite sie stehen sollte, falls es zwischen USA und China zum Showdown kommt. Das Bild wird noch deutlicher, wenn man die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA bedenkt.
Deutschland sollte nicht auf seine Sonderrolle pochen
Man mag einwenden, dass Deutschland anders ist als die EU als Ganzes. Das stimmt. Deutschland hat einen besonders großen Überschuss im Güterhandel. Aber umso wichtiger ist die Tatsache, dass die Gesamtbilanz der EU deutlich ausgeglichener ist. Deutschland sollte nicht auf seine Sonderrolle pochen, sondern seine Vorteile im europäischen Verbund suchen. Und noch etwas: Nach Umsätzen ist China im Güterhandel zwar Deutschlands wichtigster Partner. Aber der Vorsprung Chinas ist in den letzten Jahren auf weniger als 2 Mrd. Euro geschmolzen. Und in allen anderen Bereichen dominieren die USA auch die deutsche Leistungsbilanz mit großem Abstand.
West- gegen Ostblock? Das würde für uns alle teuer
Dennoch wäre eine Fragmentierung der Weltwirtschaft in einen US-geführten Westblock und einen China-geführten Ostblock für die EU sehr teuer. Simulationsrechnungen zeigen, dass ein solcher Schock kurzfristig das reale BIP Europas um drei Prozent einbrechen ließe, das deutsche BIP sogar noch mehr; die USA kämen mit einer Schrumpfung um zwei Prozent weg. Würde es sich die EU in einem sino-amerikanischen Konflikt mit den USA verscherzen, wären die Verluste im Extremfall zweieinhalbmal so hoch.
Die Analyse zeigt: Europa muss sich gegen den Verfall des regelbasierten globalen Wirtschaftssystems stemmen. Um hier voranzukommen, sollte es hinsichtlich seines bilateralen Verhältnisses mit den USA proaktiv verhandlungsbereit sein. Das sollte auch den Abbau der hierzulande höheren Handelsbarrieren beinhalten. Und ernsthafte Investitionen in die eigene militärische Handlungsfähigkeit.