Die Dimension sei „dramatisch“, bilanzierte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach einem Treffen mit den Verteidigungsministern der Mitgliedstaaten vor einigen Wochen. Der Ukraine geht an der Front bei der Verteidigung gegen Russland die Munition aus. Vor allem die Artilleriegeschosse. Und die EU kann nicht im Entferntesten die Mengen an Munition liefern, die sie versprochen hatte. Um endlich ausreichend Granaten für die Ukraine zu beschaffen und die eigenen Bestände aufzufüllen, haben sich die Europäer vorgenommen, die Produktion der wichtigsten NATO-Artilleriekaliber bis Ende 2024 auf 1,5 Millionen Stück pro Jahr hochzufahren.
Neue Munitionsfabriken dafür sind – unter anderem bei Rheinmetall in Niedersachsen – bereits im Bau. Doch auch wenn die notwendigen Kapazitäten bald bereitstehen, ist fraglich, ob Europa sein Ziel bei der Munitionsproduktion mittelfristig erreichen kann. Das wird, so warnen mehrere Vertreter der Rüstungsbranche, unter anderem von China abhängen. Denn aus dem mit Russland verbündeten Land importieren die Produzenten zum Großteil einen unabdingbaren Bestandteil der Munition: Nitrozellulose, auch Schießbaumwolle genannt, beziehungsweise deren Vorprodukt Lintern, ein Ausschussprodukt der Baumwollproduktion.
Europa importiere diese Fasern derzeit zu 70 Prozent aus China, dem größten Baumwollproduzenten der Welt, warnte Rheinmetall-Chef Armin Papperger in der „Financial Times“ (FT). Es bestehe ein Risiko, dass China die Lieferung von Lintern aus politischen Gründen stoppen könnte. „Das ist der Grund, dass wir derzeit so viel kaufen wie möglich, um unsere Lager zu füllen“, sagte Papperger. Rheinmetall habe bereits einen Lagerbestand für die kommenden drei Jahre aufgebaut. Bislang träfen auch „jeden Monat“ weitere Lieferungen aus China ein. „Der Punkt ist aber, dass Europa langfristig unabhängig sein sollte“, so der Firmenchef.
Russland kauft auf Umwegen in Europa
Andere zeichnen ein viel dramatischeres Bild. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron stellte kürzlich in Bezug auf die schleppende Munitionsproduktion fest: „Es ist das Pulver, woran es uns derzeit wirklich mangelt.“ Mit „Pulver“ ist bei der modernen Munitionsherstellung hauptsächlich die „Schießbaumwolle“ gemeint, die in der Regel in Feststoff- und Pellet-Form verarbeitet wird. Anders als Rheinmetall-Chef Papperger berichtete unter anderem EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bereits von Importproblemen. Die Lieferung der Baumwoll-Lintern aus China sei „vor ein paar Monaten wie zufällig“ eingestellt worden, sagte Breton.
„Es gibt eine riesige Unterversorgung mit Nitrozellulose“, zitiert die FT einen namentlich nicht genannten Manager aus der Rüstungsbranche. Das bereite der Industrie auch in anderen Bereichen Probleme. Der Stoff wird etwa in Kunststoffen, Lacken und Klebstoffen sowie in Kosmetikprodukten verwendet.
Beigetragen zu der Knappheit in Europa hat offenbar auch Russland. Das Land hat Berichten zufolge seinen Import von Nitrozellulose nach Beginn seines Kriegs gegen die Ukraine auf 2000 Tonnen im Jahr 2022 verfünffacht und dann 2024 noch einmal verdoppelt. Auch für Russland spielt China als Lieferant eine große Rolle. Der Großteil der zusätzlich eingeführten Menge stammt einem Bericht der „Moscow Times“ allerdings ausgerechnet aus der EU und auch aus den USA. Zwar haben sowohl die EU-Staaten als auch die USA im Rahmen ihrer Sanktionen die Lieferung von Nitrozellulose an Russland verboten. Offenbar haben aber mehrere Hersteller die Schießbaumwolle in großen Mengen an vermeintlich zivile Abnehmer in der Türkei geliefert, die sie an russische Abnehmer weiterverkauften.
Der Artikel ist zuerst bei ntv.de erschienen. Die Nachrichtenplattform gehört wie Capital zu RTL Deutschland.