Sollen Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit ihren deutschen Pass verlieren, wenn sie eine Straftat begehen? Ja, sagt Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) und schaltet im Wahlkampf auf rigorose Rhetorik. Doch was sagen Managerinnen, Ärzte, Politikerinnen und Unternehmer mit Migrationsgeschichte und zwei Pässen zu der Forderung? Sechs von ihnen erzählen Capital, warum sie der Vorstoß so sehr bewegt:
Doppelstaatler kritisieren Friedrich Merz
„Merz' Forderung, Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft im Falle einer Straftat die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen, sendet eine deutliche Botschaft an viele Deutsche mit Migrationsgeschichte: Sie sind Deutsche auf Bewährung, Deutsche zweiter Klasse. Natürlich kann man über den Sinn der doppelten Staatsbürgerschaft diskutieren – das ist ein legitimes politisches Thema. Dann sollte es aber genau darum gehen und nicht um die Abwertung einer Einbürgerung. Die Einführung einer neuen Staatsangehörigkeitskategorie steht im Widerspruch zum Grundgesetz und trifft besonders jene ins Mark, die gut integriert und eingebürgert sind. Diese Botschaft grenzt aus und verstärkt das bereits vorhandene Gefühl, dass man nicht richtig dazugehören kann, so sehr man es auch versucht.
Ich selbst bin deutscher Staatsbürger und setze mich öffentlich gegen Rassismus ein. Trotzdem werde ich oft in sozialen Medien rassistisch angegriffen, und mir wird mein Deutschsein abgesprochen. Ich kenne also dieses Gefühl sehr gut. Auch wenn ich persönlich nicht betroffen wäre, denke ich an meine Familie, die seit vier Generationen in diesem Land lebt. Sie sollten sich nicht mit dem Gedanken auseinandersetzen müssen, ihre Zugehörigkeit zu ihrem Heimatland sei bedingt. Bei deutschen Straftätern sollte allein das Strafrecht greifen – nicht das Staatsangehörigkeitsrecht. Die Vorstellung, dass man Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft als eine Art „Deutsche light“ betrachtet, ist nicht nur verletzend und ausgrenzend, sondern auch im Grundgesetz nicht vorgesehen, denn das kennt keine Bürger zweiter Klasse.“
„2010 wurde ich eingebürgert. Damals war ich neun Jahre in Deutschland, ging hier zur Schule. Ich hatte sogar eine Eins in Deutsch – als einzige in unserem Abschlussjahrgang. Kurz nach der Einbürgerung habe ich sie gefeiert, viel größer, als ich je einen Geburtstag feiern würde. Denn irgendwie war die Einbürgerung eine Art zweite Geburt: als Deutsche – also so, wie ich mich seit vielen Jahren fühle. Lange schien mir, als wäre damit mein Integrationsprozess eindeutig abgeschlossen. Als würden der deutsche Pass und ich zusammengehören – für immer. Und nun erlebe ich, wie in der Prime Time über Ausbürgerungen diskutiert wird. Das macht mir Angst. Die Vorstellung, womöglich einen ungeklärten Aufenthaltsstatus zu haben, führt dazu, dass ich mich am liebsten unter eine Decke verkriechen und erst dann herauskommen würde, wenn diese Diskussionen vorbei sind.
Nein, ich habe nicht vor, Straftaten zu begehen. Doch wie kann ich mir sicher sein, dass die erleichterte Ausbürgerung in wenigen Jahren unter einer konservativeren Regierung nicht dazu führt, dass man trotzdem aus der Staatsbürgerschaft entlassen und des Landes verwiesen wird? Wie kann ich mir sicher sein, dass dann nicht ggf. Handlungen zu Straftaten erklärt werden, die wir heute für unvorstellbar halten? Das kann ich nicht. Und deshalb versetzt diese Diskussion mich in Schockstarre – genauso wie Millionen anderer Menschen mit Migrationsgeschichte, die weder ewig Deutsche auf Bewährung noch auf Widerruf sein möchten.“
„,Home is where the heart is'. Dieses Sprichwort beschreibt, was viele Menschen mit Migrationsgeschichte fühlen – wir haben zwei Herzen, die in unterschiedlichen Welten schlagen. Eines schlägt für das Land, aus dem unsere Eltern stammen, das andere für das Land, das unser Zuhause ist. Diese doppelte Verbundenheit ist eine besondere Stärke, die uns Fähigkeiten verleiht, die andere oft nicht haben. Wir sprechen zwei Sprachen und verstehen beide Kulturen. Diese Perspektive hilft uns, Brücken zu bauen, Konflikte zu verstehen und Empathie zu zeigen – Eigenschaften, die in unserer globalisierten Welt wertvoll sind. Doch wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft gespalten werden, entstehen Gräben, die schwer zu überwinden sind. Diese Spaltung nährt Misstrauen, Vorurteile und Feindbilder und gefährdet den sozialen Zusammenhalt. In einer polarisierten Gesellschaft verlieren wir leicht gemeinsame Werte und Ziele. Besonders gefährlich wird sie, wenn sie politisch instrumentalisiert wird, um Konflikte zu schüren. Die Tatsache, dass wir zwei Herzen haben, ist kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Unsere oft unerzählten Geschichten tragen eine Kraft, die der Gesellschaft hilft, sich weiterzuentwickeln. Es ist an der Zeit, diese Geschichten sichtbar zu machen. Deutschland ist unser aller Zuhause – ein Land, das durch Vielfalt und Zusammenhalt zukunftsfähig bleibt.“
„Herr Merz fischt mit seinem Vorstoß leider sehr tief in braunen Gewässern. Ein gefährlicher Kurs, der dringend korrigiert werden muss! Dem Kanzlerkandidaten dürfte insgeheim auch klar sein, dass seine Forderung vor dem Bundesverfassungsgericht kaum bestehen könnte. Gehen wir aber mal davon aus, dass der Vorschlag tatsächlich durchkommt: Dann würden autochthon Deutsche tun und lassen können, was sie wollen, ohne die Staatsbürgerschaft zu verlieren, aber Menschen mit Einwanderungsgeschichte würden als Deutsche auf Widerruf gelten. In dieser Logik schaden also manche Straftäter dem Land und seinen Einwohnern mehr als andere, sonst müsste man sie ja nicht noch zusätzlich und außerhalb des geltenden Strafrechts bestrafen. Merz‘ Reform würde aus der deutschen Staatsbürgerschaft tatsächlich ein weißes Privileg machen, also ein Vorrecht vor anderen, nicht-weißen/ nicht-migrantischen Menschen. Das ist rassistisch. Um Missverständnissen vorzubeugen: Straftäter gehören mit aller Härte des Rechtsstaats bestraft. Die Bundesrepublik ist aber aus guten Gründen ein Recht- und kein Rachestaat.
Es ist das alte Spiel auf dem Rücken von Minderheiten, Wahlerfolge erzielen zu wollen, indem man auf Spaltung setzt: „Mit mir habt ihr mehr Rechte als die anderen!“ Und es ist ein Spiel mit den Urängsten von Menschen mit Einwanderungsgeschichte: Eben nicht ganz zur deutschen Gesellschaft zu gehören, nur „Pass-Deutscher“ und bloß geduldet zu sein.
Herr Merz, es ist gut möglich, dass Sie bald Kanzler der Bundesrepublik werden. Der Bundeskanzler muss allen Menschen in Deutschland dienen. Wenn DemokratInnen die Sprache und Praxis der Rechtsextremen kopieren, nutzt das am Ende nur dem Original. Bitte nehmen Sie Abstand von dieser Forderung! Marschieren Sie nicht im Gleichschritt mit Rechtsextremen mit!“
„Es sollte keine Staatsbürgerschaft auf Probe geben. Die Hürde, die Staatsbürgerschaft zu erhalten, sollte aber signifikant hochgesetzt werden. Für viele Funktionen in unserer Gesellschaft und in der Wirtschaft benötigen wir ein polizeiliches Führungszeugnis, für einen deutschen Pass haben wir nichts Vergleichbares. Mit dem deutschen Pass verbinden wir auch unsere Kultur und Werte. Daher kein Pass ohne gleiches Werteverständnis. Sorgfältige Prüfung im Vorfeld, Qualifikation, Sprache und Werteverständnis und ohne kriminelle Vergangenheit. Daher mein Rat, lieber sorgfältig prüfen als Verteilung der Pässe auf Probe!“
„,Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden', heißt es unmissverständlich im Artikel 16 des Grundgesetzes. Der Artikel ist eine unhintergehbare Errungenschaft. Er ist eine Reaktion auf den Nationalsozialismus, der Millionen zu Staatenlosen gemacht hat. Friedrich Merz demonstriert mit seiner populistischen Forderung ein prekäres Rechts- und Geschichtsverständnis. Doppelte Staatsbürger:innenschaft bedeutet nicht, dass die Menschen woanders ein Zuhause haben. Ganz im Gegenteil sprechen wir hier oft von Orten, an denen sie verfolgt werden oder perspektivlos sind. Viele sind auch in die doppelte Staatsbürger:innenschaft geboren und haben ihr ganzes Leben schon in Deutschland verbracht. Die Äußerungen von Friedrich Merz richten erheblichen Schaden an und tragen dazu bei, dass sich Staatsbürger:innen ausgestoßen fühlen. Ihnen wird vermittelt, dass sie Bürger:innen zweiter Klasse sind, deren Leben trotz deutschem Pass immer infrage gestellt werden kann. Das macht Angst und verunsichert. Dabei wird die Rechnung, den Rechtsextremen durch menschenverachtende Polemik Wähler:innen streitig zu machen, nicht aufgehen. Wer spricht wie die Rechtsextremen, hilft damit ihnen und nicht sich selbst. Anstatt rhetorisch Menschen zu diskriminieren, ist doch die drängende Frage, wie es Migrant:innen erleichtert werden kann, die deutsche Staatsbürger:innenschaft zu erhalten und an der Gesellschaft ohne Einschränkungen teilzuhaben.“