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Argentinien Milei und die Kettensäge: Kommt jetzt der große Kahlschlag?

Vom argentinischen Kongress zum Präsidenten gekürt: Javier Milei und seine Vizepräsidentin Victoria Villarruel. 
Vom argentinischen Kongress zum Präsidenten gekürt: Javier Milei und seine Vizepräsidentin Victoria Villarruel. 
© Latin America News Agency / IMAGO
Mit radikalen Ideen tritt der neue Präsident Milei an, Argentinien aus der Dauerkrise zu führen. Aber haben die geplanten Schocktherapien des exzentrischen Populisten eine Chance?

Aufrührerisch, rebellisch, provokant: So gab sich Javier Milei im argentinischen Wahlkampf. Am Donnerstag hat der Kongress in Buenos Aires den 53-jährigen Ökonomen offiziell zum Präsidenten proklamiert. Er ist angetreten, die bestehende politische Ordnung zu stürzen – nun ist er gefordert, seine eigene Vorstellung zu liefern. Angeblich hat er Austeritätspläne in der Schublade. Am 10. Dezember übernimmt er das Amt, mit dem Versprechen, die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas aus der Dauerkrise zu führen. Kann das gelingen?

Der Außenseiterkandidat der Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit rückt vor), der sich als Anarcho-Kapitalist bezeichnet, hat den Kandidaten der eher links gerichteten Peronisten geschlagen, die bisher den Präsidenten stellten. Um Besserung zu bringen, blickt Milei tatsächlich auf eine Karriere als seriöser Ökonom zurück, darunter als Chefvolkswirt der Investmentbank HSBC. Er definiert sich als „liberaler Libertärer“, „philosophisch gesehen ein Marktanarchist“. Den Staat sieht er als unterdrückerischen Feind. Seine Hunde sind benannt nach den Ökonomen Murray Rothbard, Milton Friedman und Robert Lucas. Den Zulauf der Massen gewann er dank häufiger Auftritte als Agent Provocateur in Fernseh-Talkshows.

Bevor Milei Argentinien wie angekündigt zur Weltmacht machen kann, muss er zunächst eine Wirtschaftslage lösen, die verzwickter ist als in jedem anderen Land Amerikas. Eines der Hauptprobleme, die der Peronismus hinterlassen hat, ist die mangelnde Transparenz der öffentlichen Informationen und Indikatoren, warnt die liberale Friedrich Naumann Stiftung in einer Analyse. Es werde für den Präsidenten entscheidend sein, „der Bevölkerung zu zeigen, in welch – katastrophalem – Zustand sich die öffentlichen Finanzen befinden.“ Milei müsse „klar darlegen“, was seine Regierung in den ersten Monaten vorhabe. Das habe der letzte nicht-peronistische Vorgänger versäumt und für die Zaghaftigkeit teuer bezahlt.

Inflation könnte auf 200 Prozent klettern

In einem miserablen Zustand ist Argentinien in vielerlei Hinsicht: Die Inflation stieg zuletzt auf über 140 Prozent und könnte Prognosen zufolge in den nächsten Monaten auf 200 Prozent klettern. Der scheidende Präsident Alberto Fernandez war bei seinem Antritt vor vier Jahren mit einer Teuerungsrate von 54 Prozent gestartet. Die Staatsschulden stehen bei 90 Prozent des BIP, das Haushaltsdefizit wächst. Externe Geldquellen sind rar: Beim Internationalen Währungsfonds (IWF) steht das Land noch mit gewaltigen 44 Mrd. Dollar in der Kreide. Reserven an harter Währung stehen im Minus. Rigide Kapitalkontrollen führen dazu, dass der Dollar auf dem Schwarzmarkt um das Dreifache des offiziellen Wechselkurses gehandelt wird. 

Drei Dämonen müsse Milei bewältigen, schreibt der „Economist“: Die Argentinier, von denen vier von zehn in Armut leben, müssen den Gürtel enger schnallen, weil das Haushaltsdefizit schrumpfen muss. Überdimensionierte Rentenzahlungen (zwölf Prozent des BIP) und Subventionen für Treibstoff oder Transportmittel könnten dafür die erste Wahl sein. Zweitens bedürfe das komplex geflochtene Wechselkurssystem, mit etwa 15 verschiedenen Umrechnungen wie etwa für den Soja-Export, einer Generalüberholung. Unvermeidliche Folgen wären eine weiter steigende Inflation und eine Abwertung. Drittens müsse Argentinien seine (auch bei China) angehäuften Auslandsschulden in den Griff bekommen: eventuell durch Zinssenkungen oder Abschreibungen des IWF. 

Seine radikalsten Ansagen scheint Milei dabei schon einzusammeln. Das oberste Wahlkampfziel – den wertlosen Peso durch den Dollar zu ersetzen und die Zentralbank abzuschaffen ­– schiebt er gerade stillschweigend auf die lange Bank. Wohl wäre die Dollarisierung naheliegend angesichts einer nicht vorhandenen finanziellen Glaubwürdigkeit. Der Peso ist eine chronische Krisenwährung – von Milei als „Exkrement“ beschimpft. Doch vieles deutet darauf hin, dass die hehren Absichten zunächst zugunsten einer pragmatischen Lösung kassiert werden. So könnte als stabilisierende Maßnahme das Wechselkurssystem vereinheitlicht werden. Denn um komplett auf den Dollar umzustellen, bräuchte die Notenbank laut Mileis Team rund 40 Mrd. Dollar. Nur, woher nehmen, ohne Bank des Vertrauens und angesichts erschöpfter Reserven. 

Mäßigende Koalitionäre – „Messi der Finanzen“

Überhaupt tritt Mileis Gruppierung trotz des komfortablen Wahlsiegs in 20 von 23 Provinzen höchst angreifbar mit einer Minderheit im Parlament an: ein Sechstel der Sitze im Unterhaus und ein Zehntel im Senat. Damit ist kein Staat zu machen. Der Ausnahmesieger ist auf Koalitionäre angewiesen, will er seine Ziele auch nur ansatzweise umsetzen. Erste Entscheidungen für Ministerposten festigen ein Bündnis mit dem Lager von Ex-Präsident Mauricio Macri, der Milei in der entscheidenden Stichwahl unterstützte. Macris Mitte-Rechts-Koalition verfolgte in einem vierjährigen Interregnum in 28 Jahren Peronisten-Regierung von 2015 bis 2019 eine marktfreundliche, aber letztlich erfolglose Wirtschaftspolitik.

Der Urheber des „nicht verhandelbaren“ Plans der Dollarisierung, Wirtschaftsprofessor Emilio Ocampo, ist als Zentralbankchef jedenfalls aus dem Rennen. Offenbar winkte er ab, während sich abzeichnet, dass der designierte Wirtschaftsminister Luis Caputo ein geordnetes Szenario zum geeigneten Zeitpunkt einer disruptiven Lösung um jeden Preis vorzieht, wie sein Lager signalisierte. Caputo gilt als Intimus von Macri, unter dem er für kurze Zeit als Finanzminister und Notenbankchef diente. Nach Stationen bei JP Morgan und Deutsche Bank wird er als Mann der Wall Street bezeichnet, trägt den Beinamen „Toto“ und „Messi der Finanzen“, in Anspielung an Argentiniens Fußballidol.

In seinen Ämtern führte Caputo das Land nach der Staatspleite 2014 zurück auf den internationalen Finanzmarkt und leitete die Schuldenverhandlungen mit US-Hedgefonds, den sogenannten Geierfonds. Argentinien willigte ein, 9,35 Mrd. Dollar an die Hauptgläubiger zu zahlen. Diese erste Emission der Regierung Macri erreichte noch 16 Mrd. Dollar. Ein weiterer Höhepunkt war die vielbeachtete 100-Jahres-Anleihe, die laut „Economist“ bis Ende 2019 noch etwa 2,7 Mrd. Dollar am Kapitalmarkt einbrachte. Sie wurde nach der jüngsten Staatspleite 2020 aber als Teil einer umfassenden Umschuldung vom Markt genommen und durch neue Bonds ersetzt. Als Chef der Zentralbank wird ein früherer Notenbanker ebenfalls aus Macris Reihen, Demian Reidel, gehandelt. 

Neben den Abgeordneten von Macris konservativer Partei PRO (Propuesta Republicana) benötigt Milei aber weitere Partner, denn der Kongress verfügt in der Steuer- und Währungs- wie auch in der Sozial- und Außenpolitik über weitreichende Befugnisse. Die Summe des gesamten konservativen Blocks von „Juntos por el Cambio“ (Gemeinsam für den Wandel) und „La Libertad Avanza“ könnte eine knappe Mehrheit für Reformprojekte ergeben. Im Senat, der Vertretung der Provinzen, warten höhere Hürden, um Mehrheiten zu organisieren. In der Opposition verfügen die Peronisten mit den Gewerkschaften über mächtige Verbündete.

Erste Reise nach Washington vor Amtsantritt 

So wie Milei versprach, die Zentralbank zu sprengen und den aufgeblähten Staatsapparat mit der Kettensäge anzugehen, so will der dem G20-Mitglied auch eine neue Außenpolitik verordnen. Mit Kommunisten will sich Milei nicht an einen Tisch setzen und brüskiert damit wichtige Partner wie Brasilien mit seinem linken Präsidenten Lula da Silva und China. Auch in die Konstellation des „globalen Südens“ und die geopolitischen Macht-Ambitionen der BRICS-Gruppe fügt der neue Präsident sich nicht nahtlos ein. Im Gegenteil: Die Anwartschaft Argentiniens zu dem Schwellenländerblock zog er zurück. Vorgänger Fernandez hatte sich noch mit der BRICS-Kampagne gegen die internationale Dominanz des US-Dollars und Währungs-Swaps in Renminbi angefreundet.

Nun steuert Milei zum Zeichen eines klar pro-westlichen Kurses noch vor Amtsantritt die USA an – ohne dort seinen vermeintlichen Seelenverwandten Donald Trump zu treffen, den er nach eigenen Worten ebenso bewundert wie Margaret Thatcher. Seinem Team in Washington wurde nach Gesprächen im Weißen Haus und im US-Finanzministerium Kooperationsbereitschaft signalisiert.

Auch IWF-Chefin Kristalina Georgieva äußerte sich nach einer Videokonferenz zuversichtlich: Argentinien könne auf den Fonds zählen und sich um Mittel aus dem „Resilience and Sustainability Trust“ (RST) bewerben. Der im April 2022 geschaffene Milliarden-Fonds für längerfristige Finanzspritzen steht auch Ländern mit mittlerem Einkommen zur Bewältigung von Klimawandel oder Folgen der Coronapandemie offen – verlangt im Gegenzug aber Reformen und eine tragfähige Schuldenlast.

Spannend bleibt, was aus Mileis Ankündigung wird, dem Vier-Länder-Handelsblock Mercosur den Rücken zu kehren. Dessen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU stehen wohl kurz vor dem Abschluss. Lula will das Abkommen noch in seiner Amtszeit als Vorsitzender des Blocks bis Ende 2023 unter Dach und Fach bringen. Ob Argentinein unter Milei neben Paraguay und Uruguay den zusätzlichen Verpflichtungen zum Klima- und Umweltschutz zustimmen wird, darf indes bezweifelt werden. 

Reform von Einfuhrkontrollen und Exportsteuern?

Dabei steht der neue Präsident durchaus für Freihandel. Der Bergbau etwa hofft vorsichtig, dass eine Reform des Knebelsystems von Devisen-, Einfuhrkontrollen und Exportsteuern den Handel künftig erleichtern wird. Die Branche ersehnt Investitionen in den Rohstoffsektor und Importe von Maschinen und Anlagen. Argentinien ist nach Chile, Australien und China der viertgrößte Lithiumproduzent der Welt. Sein Anteil am Lithiumdreieck birgt auch wesentliche Teile der globalen Reserven. Außerdem gibt es bedeutende Kupferreserven.

Widerstand kündigt sich vonseiten der Gewerkschaften bereits gegen Privatisierungspläne Mileis an. Der Energieversorger Enarsa oder der Wasserversorger Agua y Saneamientos Argentinos (AySA) sind nur zwei von 33 defizitären Staatsbetrieben, die ein Prozent des BIP an öffentlichen Mitteln verschlingen sollen. Auch die Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas steht auf Mileis Privatisierungsliste, ebenso wie 51 Prozent des 2012 nationalisierten Erdölkonzerns YPF. Der Verkauf verspricht kompliziert zu werden, da den ölproduzierenden Provinzen ein Viertel des staatlichen Anteils gehört. 

So wenig Staat wie möglich, lautet Mileis Mantra. Einen „drastischen Wandel“ statt „politischem Schwindel“, verspricht er. Die Aktienmärkte haben solche und ähnliche Botschaften zunächst goutiert. Aber ob der Außenseiter wirklich Chancen hat, die unproduktiven Strukturen mit Schocktherapien umzukrempeln, muss sich noch zeigen. Mit Ausnahme einer zweijährigen Zeit als Abgeordneter verfügt er über keinerlei Regierungserfahrung. Der Schuss müsse sitzen, sonst drohe der Zorn der Straße, mahnt der „Economist“. Historisch gesehen brachte nur einer von drei Nicht-Peronisten im Präsidentenpalast seit dem Ende der Militärjunta 1983 sein Mandat regulär zu Ende; die anderen traten zurück.

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