Fluganbieter, Autohersteller, Energieerzeuger: Viele Branchen sind als Klimasünder verschrien. Doch die Zementindustrie ist bislang weitestgehend unter dem Radar des öffentlichen Interesses geblieben. Das könnte sich nun ändern. Denn laut exklusiven RTL-Recherchen verklagen vier Fischer nun den größten Zementkonzern der Welt – die Holcim AG. Die Kläger sind Bewohner der indonesischen Insel Pari. Stürme, Fluten und der ansteigende Meeresspiegel gefährden nicht nur ihr Leben und ihre wirtschaftliche Existenz. Hier sind die Folgen des Klimawandels spürbar. „Als ich ein Kind war, da gab es so etwas nicht“, berichtet der 36-jährige Fischer Edy Mulyono im Gespräch mit RTL/ntv. „Es gab nicht solche extremen Wetterphänomene.“ Die gesamte Insel könnte bald im Meer versinken.
Die Hoffnungen der vier Indonesier – eine Frau und drei Männer – sind groß. „Erstens erwarte ich, dass sie [Holcim] ihre Treibhausgase reduzieren, damit der Klimawandel nicht voranschreitet. Sie müssen ihre Emissionen verringern“, sagt Edy Mulyono, einer der Kläger, zu RTL/ntv. „Der zweite Punkt ist, dass sie für ihren Anteil am Klimawandel zur Verantwortung gezogen werden.“ Mit seiner Frau und drei Kindern lebt er seit jeher auf der Insel, führt eine Fischfarm und eine Unterkunft für Touristen. Mehrere Jahre war er Dorfvorsteher. Mulyono kennt seine Insel – und er weiß ganz genau, mit wem sich die kleine Inselgemeinschaft jetzt anlegt. „Warum Holcim?“, fragt Fischer Edy Mulyono und gibt sogleich selbst die Antwort. „Wir meinen, dass neben anderen die Holcim AG drastisch zur Umweltzerstörung beigetragen hat. Deswegen haben wir sie ausgesucht.“
Die Kläger wollen, dass das Unternehmen ihnen und ihrer Inselgemeinschaft Schadensersatz für die Zerstörung von Häusern, Fischfarmen und Infrastruktur zahlt. Das belegen die in der Schweiz eingereichten anwaltlichen Unterlagen, die RTL/ntv exklusiv vorliegt. Außerdem soll der Konzern Schutzmaßnahmen finanzieren, durch welche die Insel vor zukünftigen Unwettern geschützt wird. Für die Holcim AG sollte eine weitere Forderung jedoch weit bedeutender sein: Die vier Kläger wollen den Zementkonzern auf eine viel drastischere Senkung seines CO2-Ausstoßes verpflichtet wissen. So soll die Holcim AG ihre Treibhausgase bis 2030 um 43 Prozent reduzieren (zum Vergleichsjahr 2019), bis 2040 um 69 Prozent. Dies würde sicher nur mit umfangreichen und teuren Investitionen möglich sein. Wahrscheinlich müsste der Konzern seine Beton- und Zementproduktion völlig umstellen.
Holcim will grün werden
Laut einer Studie des US-amerikanischen Climate Accountability Institute ist Holcim für 0,42 Prozent der gesamten Treibhausgase verantwortlich, die seit dem Jahr 1750 weltweit in die Luft geblasen wurden. In den 70 Jahren zwischen 1950 und 2020 habe Holcim sieben Milliarden Tonnen Zement produziert. Die dabei verursachten CO2-Emissionen beliefen sich laut der Studie auf etwa die gleiche Summe. Damit gehört die Holcim AG zu den „Carbon Majors“, den Konzernen, die für einen Großteil der Treibhausgase in der Atmosphäre seit Beginn der Industrialisierung verantwortlich sind. Hervorgegangen ist das Unternehmen aus der Schweizer Holderbank und der französischen Lafarge. Die beiden Unternehmen fusionierten im Jahr 2015. Einige Zeit lang nannte sich der Konzern daraufhin LafargeHolcim, bevor der erste Part des Namens im vergangenen Jahr dann wieder gestrichen wurde.
Anlässlich des eigenen Capital Market Days im vergangenen November verkündete der Zementriese noch, eine „grüne Betonfirma“ werden zu wollen. Zum Klageverfahren, das die vier Fischer gegen das Unternehmen eingeleitet haben, äußert sich Holcim auf Anfrage von RTL/ntv nicht. Yves Böni, ein Sprecher des Unternehmens, teilte aber mit, dass der Konzern Klimaschutz „sehr ernst“ nehme. „Wir haben unseren CO2-Fußabdruck über die vergangenen Jahrzehnte entscheidend reduziert. Wir werden diesen Weg im Einklang mit den wissenschaftlichen Anforderungen bis 2030 weiter beschleunigen und werden bis 2050 ein klimaneutrales Unternehmen sein.“ Holcim sei „bei der Dekarbonisierung branchenführend“.
Holcim-Zement wird auch in Deutschland verbaut: in U-Bahnhöfen, Freizeitparks und Rheinbrücken. Allein in der Elbphilharmonie in Hamburg stecken 63.000 Kubikmeter Beton und 30.000 Tonnen Zement von Holcim. Die Nutzung von herkömmlichem Zement hat eine verheerenden Klimabilanz. Laut dem Umweltwissenschaftler Yvan Maillard Ardenti vom Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) gehört die Zementindustrie zu den größten globalen Klimasündern. „Zement weltweit ist etwa dreimal so schlimm wie Fliegen“, ordnet der Experte die Klimabilanz gegenüber RTL/ntv ein. „Hier entsteht Klimawandel und Klimawandel verursacht Meeresspiegel-Anstieg.“
Klage mit Modellcharakter
Wegen dieses Zusammenhangs stehen den Fischern große Nichtregierungsorganisationen bei: in ihrer Heimat die indonesische Organisation WALHI, die schweizerische HEKS und in Berlin das ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights). Allen Beteiligten ist klar, dass das Verfahren in der Schweiz Modellcharakter hat. „Das eingeleitete Verfahren gegen Holcim in der Schweiz ist Teil einer weltweiten Bewegung“, sagt ECCHR-Menschenrechtsanwältin Miriam Saage-Maaß zu RTL/ntv. „Unternehmen können sich nicht mehr verstecken.“ Immer mehr Menschen stünden nun auf und wehrten sich. „Sie akzeptieren nicht weiter, dass Unternehmen auf ihre Kosten wirtschaften, das Klima ruinieren und Menschenrechte verletzen.“
Ob das Schweizer Gericht den Bewohnern der Insel Pari Recht gibt, bleibt abzuwarten. Bis dahin könnte diese Klage aber zumindest eines bewirken: Dass sich mehr Menschen darüber bewusst sind, wie klimaschädlich die Zementbranche aktuell ist.