Tobias Engelmeier ist Gründer von Bridge to India. Seit 2008 berät er führende internationale Unternehmen mit Nachhaltigkeitslösungen, um im indischen Markt erfolgreich zu sein. 2010 erschien sein Buch „Nation Building“, eine umfassende Analyse indischer Politik.
Bringt Narendra Modis Wahlsieg in Indien das Wachstum zurück und können deutsche Unternehmen jetzt auf neue Geschäfte hoffen? In den vergangenen Jahren hat Indiens Wirtschaft die Erwartungen nicht erfüllt. Das euphorisierende Wachstum von fast zehn Prozent in den Jahren 2005 bis 2010 ist einer Rate von etwa vier Prozent im Jahr 2013 gewichen. Das kommt in dem armen Land einem Stillstand gleich.
Auch die Wachstumsprognosen vieler deutscher Unternehmen wurden enttäuscht: VW etwa investierte 580 Mio. Euro in ein neues Werk bei Pune, um den Markt zu bedienen. Dann brach der Absatz von Neuwagen in Indien ein. Der Preiswettbewerb war ohnehin schon sehr hart. VW musste nun Autos aus Indien exportieren, das Werk konnte nicht voll genutzt werden. Auch Metro ist in einem stark regulierten Markt viel langsamer gewachsen als geplant. Der Energieversorger Eon wollte in Indien (neben Brasilien und der Türkei) seine Internationalisierungsstrategie umsetzen und viel Geld in Kraftwerke investieren - um sich kurz darauf aus dem Markt wieder zu verabschieden.
Viele weitere mittelständische und große deutsche Firmen, die auf ein boomendes Geschäft in Indien gesetzt haben, sind ernüchtert. Auch der Handel zwischen Indien und Deutschland, der in den Jahren bis 2011 stetig gestiegen war, ist 2012 und 2013 geschrumpft.
Wird sich das nun ändern? Mit großer Wahrscheinlichkeit ja. Zuerst einmal kann die Wirtschaftslage in Indien kaum schlechter werden als sie es im Moment ist. Es mehren sich die Anzeichen, dass das Wachstum eine Talsohle durchschritten hat und anziehen wird, egal wer an der Macht ist. Die Fundamentaldaten sind nach wie vor gut. Vor allem hat Indien die größte junge Bevölkerungsgruppe der Welt. Sie ist leistungsbereit und strebt nach Wohlstand.
Freund internationaler Investoren
Das Wahlergebnis wird den positiven Trend verstärken. Es wird in Indien als historisch gewertet. Die Oppositionspartei BJP um ihren Spitzenkandidaten Narendra Modi konnte mit 282 von 543 Sitzen eine absolute Mehrheit im Unterhaus gewinnen. So ein klares Ergebnis gab es zuletzt zu Rajiv Gandhis Zeiten in den frühen achtziger Jahren. Die bisher regierende Congress-Partei um Premierminister Manmohan Singh hat nur noch 44 Sitze. Modi gilt als wirtschaftlich liberal und gesellschaftlich konservativ, sein Führungsstil als autoritär. Deshalb wird er oft mit dem türkischen Premier Erdogan verglichen.
Mit dem klaren Mandat kann die neue Regierung viele Reformen anpacken, die die Wirtschaft zurzeit lähmen: die Öffnung des Einzelhandels und der Finanzmärkte, die Neugestaltung der Energiemärkte und eine Vereinheitlichung des Steuersystems. Auch die vorige Kongressregierung hat sich an einigen dieser Reformen versucht, ist aber am eigenen linken Flügel und an schwierigen Koalitionspartnern gescheitert.
Modi gilt als Freund der Wirtschaft und auch internationaler Investoren. Als er noch Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat war, zelebrierte er die jährliche Investitionskonferenz „Vibrant Gujarat“ und lies sich dabei von indischen und internationalen Wirtschaftsgrößen feiern. Der Macher Modi umgeht, wenn es sein muss, schon einmal die berüchtigte indische Bremser-Bürokratie: Ein Werk für das Tata-Billigauto Nano holte er binnen weniger Tage von West Bangalen nach Gujarat.
Wird Modi auch die Korruption eindämmen? In den letzten Jahren hatte sie überhand genommen, ein Skandal nach dem anderen erschütterte das Land: Commonwealth Games, 3G Lizenzen, „Coalgate“ – um nur drei zu nennen. Die Zeitungen berichteten fast täglich von neuen Enthüllungen. Empörung wich langsam einem lähmenden Fatalismus. Dabei galt Premier Singh als persönlich integer. Nur - er hatte nicht die wirkliche Macht. Die lag bei Parteipräsidentin Sonia Gandhi und ihrem Küchenkabinett, sowie bei den mächtigen regionalen Parteien der Regierungskoalition.
Modi gilt, wie Singh, persönlich nicht als korrupt. Aber im Gegensatz zu Singh hält er die Zügel fest in der Hand. Dennoch wird die Korruption nicht schlagartig verschwinden. Auch die BJP hatte in der Vergangenheit mit Skandalen, zum Beispiel beim illegalen Abbau von Eisenerz im Staat Karnataka, zu kämpfen. Modi indes wird von einigen Vertrauten umgeben (darunter sein „Mann fürs Grobe“, Amit Shah), die über kaum einen Verdacht erhaben sind. Zudem ist die Korruption tief in der Administration und im politischen System verwurzelt.
Auf jeden Fall aber konnte Modi im Wahlkampf dem Volk glaubhaft vermitteln, dass er gegen den Amtsmissbrauch vorgehen wird. Er nahm dadurch der gehypten neuen Antikorruptions-Partei AAP fast alle Wahlchancen. Die Wirtschaft hegt die pragmatische Hoffnung, dass sich zumindest die Qualität der Korruption verbessert. Das heißt, dass klare Entscheidungsstrukturen auch Ergebnisse bringen. Das darf man sich wie in China vorstellen.
Ein riesiges Potential ist abrufbar
Klar ist, dass Indiens Wirtschaftseliten und die aufstrebende urbane Mittelschicht hinter Modi stehen. Sie haben seinen Wahlsieg gefeiert. Die Börsen haben positiv reagiert. Die Wirtschaft wird von einer strafferen, reformbereiten und weniger korrupten Regierung profitieren. Abzuwarten bleibt, ob ein wirtschaftsfreundlicher Kurs auf eine grundsätzliche Deregulierung und weitere Liberalisierung des Marktes zielen wird oder ob wenige Industrieunternehmen, wie zum Beispiel Reliance Infrastructure oder Adani, die Modi sehr nahestehen, Privilegien genießen und damit die Oligarchisierung und Wettbewerbsverzerrung der letzten Jahre weiter voranschreiten wird.
Das wird entscheidend für Indiens Wirtschaft sein: Um sein zweifelsohne riesiges Potential abzurufen, muss Indien einen anderen Wachstumspfad einschlagen. Seit der Liberalisierung, Anfang der 1990er-Jahre, wurden vor allem bestehende Ressourcen wie Bodenschätze, Land und billige Arbeitskräfte (oft auf Kosten von Gesundheit, Recht und Umwelt) ausgeschöpft. In Zukunft muss Indien nachhaltiger neue, wirtschaftliche Werte schaffen. Der Aufbau einer leistungsfähigen Industrie und Landwirtschaft ist dabei zentral. Nur so können hunderte Millionen junger Inder, die in den nächsten Jahren in den Arbeitsmarkt drängen, zu mehr Wohlstand gelangen. Das heißt vor allem: weniger Bürokratie, weniger staatlicher Dirigismus, das Aufbrechen traditioneller Machtstrukturen und mehr Wettbewerb. Die indische IT-Industrie ist hierfür nach wie vor beispielhaft.
Achillesferse der indischen Wirtschaft ist die Infrastruktur. Nur selten, wie etwa beim Bau der U-Bahn in Delhi oder einiger Flughäfen, werden große Projekte fristgerecht umgesetzt. Das Land braucht Stromnetze, Autobahnen, Nahverkehrslösungen, Kraftwerke, bessere Häfen und Bahnhöfe, Hochgeschwindigkeitszüge, Kühlketten für den Transport von Lebensmitteln und vieles mehr. Hier liegt Modis Stärke. Unter ihm als Ministerpräsident hat Gujarat eine sichere Stromversorgung und - für indische Verhältnisse - sehr gute Straßen bekommen, sowie Indiens größten Hafen und ein Netz von Pipelines. Die Millionenstadt Ahmedabad ist besser geplant als andere indische Großstädte und die Flüsse in Gujarat sind trotz der lokalen Chemieindustrie verhältnismäßig sauber. Modi hat auch Indiens erfolgsreichstes Programm zur Förderung von Solarstrom aufgesetzt. Diese Erfolge soll er jetzt in ganz Indien wiederholen. Er hat bereits angedeutet, dass er die Energiewirtschaft grundlegend reformieren will, dass er stark auf die Erneuerbaren setzen und die dezentrale Stromversorgung stärken möchte.
Große Chancen für deutsche Firmen
Daraus können sich für deutsche Firmen große Chancen ergeben. Die deutsche Wirtschaft hat bisher so stark vom Wachstum in China profitiert, weil es die Lösungen liefern kann, die man für die Industrialisierung braucht: Maschinen, Infrastruktur, technische Kompetenz. Gerade jetzt, wo das Wachstum in China sich verlangsamt, könnte Indien die Lücke schließen. Der Nachholbedarf ist immens: Das Land braucht allein 500 GW neue Stromkraftwerke in den nächsten 20 Jahren.
Der schärfste Wettbewerb könnte dabei von den chinesischen Unternehmen kommen, die in der Vergangenheit vom deutschen Know-how profitiert haben und nun ebenfalls nach neuen Märkten suchen. Dass Modis BJP China gegenüber traditionell kritisch ist und den Schulterschluss mit dem Westen sucht, kann deutschen Firmen zugute kommen. Er hat schon auf Twitter verkündet, dass er ein gutes Gespräch mit @BarackObama geführt hat und die Zusammenarbeit vertiefen möchte.