Beim BRICS-Treffen in der letzten Woche waren die Augen der meisten westlichen Medien auf den Gastgeber Russland und die Supermacht China gerichtet. Doch die wirklichen geopolitischen Gewinner sind bei näherer Betrachtung weder Wladimir Putin noch Xi Jinping. In den Mittelpunkt schiebt sich immer mehr ein Mann, der bei früheren Gipfeltreffen eher am Rand der Begegnungen stand: Narendra Modi, der indische Ministerpräsident.
Alle umwerben Indien: Russland braucht das Land dringend als Absatzmarkt für die Rohstoffe, die es im Westen nicht mehr los wird. China will den jahrzehntelangen Rivalen unbedingt in die Einheitsfront gegen die Vereinigten Staaten einreihen. Die Europäer, allen voran Deutschland, bemühen sich um bessere Beziehungen, weil sie Indien als alternativen Standort für ihre Investitionen und als Absatzmarkt für ihre Produkte brauchen, wenn China ganz wegbricht. Und die Länder des globalen Südens nehmen Indien immer mehr als einen wichtigen Spieler der Weltpolitik und Weltwirtschaft wahr, nachdem sie das Land früher kaum beachtet hatten.
Diese Entwicklung ist nicht völlig neu, aber sie hat ausgerechnet durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine gewaltig an Tempo gewonnen. Die Inder verfolgen in diesem Konflikt nur und ausschließlich ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen. Sie nehmen Putins billiges Erdöl, aber sie machen sich nicht mit ihm gemein. Sie halten sich nicht an westliche Sanktionen gegen Russland, aber sie umgehen sie auch nicht bewusst wie es die Chinesen machen. Modi redet mit allen und tritt dabei mit einem gewaltigen Ego auf. Von den Europäern verlangt Indien Zugeständnisse bei dem seit vielen Jahren diskutierten Freihandelsabkommen. Von den Amerikanern moderne Waffen, die sie früher nicht liefern wollten. Und von den Chinesen vor allem Ruhe an der Grenze zwischen beiden Staaten, die immer wieder für bewaffnete Konflikte sorgte, weil sich die Volksrepublik früher nicht groß um die Interessen des Nachbarlands störte.
Mehr Pragmatismus wagen
Außenpolitisch muss sich der Westen erst noch an das neue Selbstbewusstsein Indiens gewöhnen. Die Inder reagieren äußerst empfindlich, wenn sie ihren äußerst ausgeprägten Nationalstolz missachtet sehen. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir Indien nicht „einreihen“ können. Aber dass es viele Möglichkeiten gibt, gemeinsame politische und wirtschaftliche Interessen zu definieren. In Berlin hat man das offenbar inzwischen begriffen. Noch nie gab es einen solchen Auflauf von so vielen deutschen Ministern (unter Führung des Bundeskanzlers) wie bei den Regierungskonsultationen am letzten Freitag in Neu-Delhi. Und auch die Asien-Pazifik-Konferenz als Begleitprogramm war sichtlich darauf angelegt, die Inder zu beeindrucken.
Wir handeln aber im eigenen Interesse, wenn wir mehr auf das Partnerland Indien setzen als in der Vergangenheit. Der Handel mit Indien macht heute gerade ein Zehntel des Warenaustauschs mit der Volksrepublik China aus. Das muss und das kann sich ändern. Früher sahen wir China durch die rosarote Brille, während wir in Indien eher eine lange Reihe von wirtschaftlichen Schwierigkeiten betonten. Weniger Naivität im Umgang mit China und mehr pragmatischen Optimismus, wenn es um Indien geht – das wäre eine vernünftige Formel für die Zukunft.