Von den Klippen aus erinnert das Geschehen im Hafen von Dover an den geregelten Takt einer Modelleisenbahn. So wohlgeplant, so präzise und ruhig fließt der Verkehr, wenn man ihn von den berühmten „Cliffs“ aus betrachtet – bloß dass im Hafen keine Miniaturzüge unterwegs sind, sondern 40-Tonnen-Lkw und 180 Meter lange Schiffe. Auf genau vorgegebenen Routen folgen sie dem eingespielten, immergleichen, ununterbrochenen Ablauf aus Anlegen und Ablegen, Ausfahren und Einfahren. Rund um die Uhr, 364 Tage im Jahr. Nur am ersten Weihnachtstag haben die Trucker und Schiffer Pause.
Die Januarsonne verschwindet gerade am Horizont, da passiert die „Pride of Kent“ die Hafenmauer. 70 Minuten hat die Kanalfähre mit Platz für 115 Lkw für die 42 Kilometer von Calais gebraucht, wie vorgesehen. Sie legt neben der „Pride of Burgundy“ an, ihrem Schwesterschiff, in dessen Bauch gerade die Laster gen Calais einrollen. Die „Pride of Kent“ öffnet die Ladeluke, ein Hunderte Meter langer Konvoi schlängelt sich heraus, an der Spitze ein weißer Lkw. Drei Minuten und elf Sekunden kurvt er über das Hafengelände, vorbei an Kontrollpunkten und Zollstationen, an denen keine Menschenseele zu sehen ist. Dann ist er schon auf der Autobahn.
Die Maschinerie funktioniert reibungslos. Nicht ein einziges Mal hat der Fahrer stoppen müssen. Seinen Pass haben britische Grenzer schon in Calais kontrolliert. Und was er geladen hat, interessiert die Zöllner nicht. Denn noch ist Großbritannien im europäischen Binnenmarkt. Noch ist das Königreich in der EU.
Am 29. März könnte das anders werden. Dann soll der Brexit kommen, dann müssten die Zöllner auf beiden Seiten des Ärmelkanals die Laster kontrollieren – sofern sich London und Brüssel nicht doch in letzter Minute auf einen Vertrag einigen, der die freie Durchfahrt erhält. Nachdem das britische Parlament Mitte Januar das ausgehandelte Brexit-Abkommen abgelehnt hat, ist ein ungeregelter No-Deal-Brexit immer noch möglich – und dann stünde hier wohl alles still: im Hafen, in Dover und weit darüber hinaus. Der ganzen Region droht eine „Mauer aus Stahl“, wie Dovers Bezirksratschef Keith Morris den befürchteten Superstau nennt. Schlimmer noch: der Kollaps des öffentlichen Lebens.
Der Hafen von Dover ist die Lebensader des Vereinigten Königreichs. Und das Nadelöhr der Güterversorgung. Bis zu 10.000 Lkw kommen hier an Spitzentagen auf 120 Fährfahrten durch, über 2,5 Millionen Laster pro Jahr. Geladen haben sie Orangen aus Spanien, Kupplungen aus Baden-Württemberg oder Maschinenteile aus der Slowakei: Waren im Wert von 119 Mrd. Pfund (134 Mrd. Euro) jährlich. Das ist mehr, als der Eurotunnel und alle anderen britischen Häfen zusammen abfertigen. Aber nur vier Prozent der Trucks – die aus Nicht-EU-Ländern – müssen beim Zoll anhalten, um die Frachtpapiere checken zu lassen. Nach dem Brexit könnte ihre Zahl um das 25-Fache steigen.
Papiere mit dem Fahrrad
Nicht weit vom Hafen ist ein meterhohes Graffiti zu einem Wahrzeichen der 45.000-Einwohner-Stadt geworden. Es zeigt einen Handwerker, der gerade einen goldenen Stern aus der blauen EU-Fahne meißelt. Noch brausen die Lkw an dem Bild des Street-Art-Künstlers Banksy schnell vorbei. Sollten aber Warenkontrollen die Abfertigung pro Lkw in Richtung Frankreich jeweils nur um zwei Minuten verzögern, gäbe es einen 27 Kilometer langen Dauerrückstau auf den Straßen vor dem Port of Dover, hat das Hafenmanagement errechnet. Und derlei Checks dauern an anderen EU-Außengrenzen zwischen fünf und 45 Minuten. Will heißen: Südostengland droht der Verkehrsinfarkt.
„Wenn die Kontrollen wiederkommen, gibt es Chaos“, sagt Andy McFarnell, Leiter der Dover-Niederlassung der belgischen Spedition Sitra. „Wir gehen zurück in die Vergangenheit.“ McFarnell, 56, rasierte Glatze und Hornbrille, weiß, wie es im Hafen vor dem EU-Binnenmarkt lief. Als er mit 16 als „Dock Runner“ hier anfing, fuhr er mit dem Rad Dokumente hin und her zwischen seinem damaligen Arbeitgeber und der Zollstelle. 130 hoch spezialisierte Unternehmen in Dover machten seinerzeit nichts anderes, als den Spediteuren beim Papierkram zu helfen. An jeder Grenze mussten Kraftfahrer beim Zoll Schlange stehen, Frachtpapiere zeigen und abstempeln lassen.

Später arbeitete McFarnell für eine Spedition, die unter anderem für den Herforder Möbelbauer Poggenpohl Küchen und Zubehör transportierte. „Fast jedes Bauteil hatte eine eigene Zollnummer“, erzählt McFarnell. „Und wenn sich jemand dabei vertippt hatte oder wenn in einer Lieferung nicht 4500, sondern 5000 Schubladenknöpfe waren, gab es Ärger.“ Dann riefen sie, oft nachts, McFarnell an: den Mann für alle Probleme. Und McFarnell musste in den Hafen zum Zoll und die Sache klären.
Am 1. Januar 1993 begann der EU-Binnenmarkt. Und mit ihm der freie, ungehinderte Warenverkehr. „Ein komisches Gefühl war das“, sagt McFarnell. Keine nächtlichen Anrufe mehr, weniger Papiere – und viel mehr Möglichkeiten. Brauchte ein Lkw von Dover nach Belgien früher ein bis zwei Tage, schaffen Sitra-Trucks die Tour zum Hauptquartier in Ypern heute in etwa dreieinhalb Stunden. Von den 130 Zoll-Hilfsbüros in Dover seien 1994 nur noch fünf übrig gewesen, sagt McFarnell.
Gab es vor dem EU-Binnenmarkt noch eine ganze Reihe wichtiger Fährhäfen, konzentrierte sich das Ärmelkanalgeschäft bald auf Dover-Calais, die schnellste Route; viele der anderen Häfen wurden stillgelegt. Plötzlich nämlich kam es auf Stunden an. Die rund 500 Lkw von Sitra transportieren heute etwa vor allem Lebensmittel – verderbliche Ware, die schnellstmöglich ins Kühlregal der Supermärkte muss. „Vieles ist jetzt just in time“, sagt McFarnell. Nicht nur im Lebensmittelhandel.
Bei der Spedition Laser Transport International rollen die meisten Trucks zwischen 6 und 7 Uhr morgens ein. Die Männer am Steuer, oft Litauer, Polen oder Rumänen, sind aus ganz Europa hergefahren, die Nacht hindurch. Der Verkehr ist weniger dicht, und vor allem muss die Ware so schnell wie möglich zum Endabnehmer. Im Lager von Laser stehen Paletten mit Radaufhängungen, Dämmstoffen oder Flugzeugteilen, die bald auf die nächsten Laster gehen, die Kundschaft in England braucht die Lieferungen. Heute.
Stau bis Frankreich
„Der Binnenmarkt hat alles verändert“, sagt Julian Keet, 60, der Direktor. Die Transportwege ließen sich plötzlich viel besser kalkulieren – und so ging „just in time“ richtig los. Hunderte britische Unternehmen, allen voran kapitalintensive Branchen wie der Auto- oder Flugzeugbau, setzen auf das Konzept. Darauf, dass Zulieferer aus Europa Waren pünktlich liefern – und sie diese sofort verarbeiten können. So sparen Hersteller Lagerhallen und Finanzierungskosten für Rohprodukte. Das Risiko: Die Ware muss wirklich rechtzeitig kommen.

„Fehlt ein Teil, kann das die Produktion tagelang stoppen“, sagt Keet. Und mit einem No-Deal-Brexit dürfte genau das häufig passieren. Selbst wenn die britischen Zöllner alle Lkw durchwinken sollten, gäbe es ja Zollkontrollen in Frankreich – und die würden auch diesseits des Kanals einen Rückstau vor Dover auslösen. Für jede Charge, sagt Keet, müsste dann ein eigenes Warenformular mit etwa 40 Feldern und eigener Zollnummer gecheckt werden – bei bis zu 25 Chargen pro Trailer.
Die Spediteure tun ihr Möglichstes, um sich auf den Tag X vorzubereiten: Sie besorgen sich Lizenzen für das künftige EU-Geschäft, statten ihre Fahrer mit neuen Pässen aus, informieren ihre Partner auf dem Kontinent über die anstehenden Veränderungen, so gut sie können. Auch wenn sie selbst nicht wissen, was am 29. März kommt. Die Kunden werden nervös: Neuerdings rufen ständig besorgte Manager bei Keet und McFarnell an. Die Unternehmen fragen nach Platz in den Lagerhäusern. Um dort Vorprodukte zu horten.
Einen Vorgeschmack auf das Verkehrschaos bekam die Grafschaft Kent, zu der Dover gehört, schon im Sommer 2015. Damals streikten Fähr- und Hafenmitarbeiter in Calais; dazu sperrten die Behörden wegen der Flüchtlingskrise immer wieder den Eurotunnel. Vor dem Hafen und auf den Autobahnen standen Tausende Lastwagen in endlosen Kolonnen. Die britische Polizei sperrte die Autobahn M20 über Kilometer und fungierte sie zu einem gigantischen Lkw-Parkplatz um. Der übrige Verkehr, der umgeleitet wurde, kam trotzdem kaum durch. Viele Trucker versuchten, sich über Landstraßen zu ihrem Ziel durchzuschlagen. Mit dem Ergebnis, dass diese Wege dann oft auch blockiert waren.
„Unsere größte Sorge ist, dass es beim Brexit einen totalen Verkehrsstillstand gibt“, sagt Peter Oakford. Der 57-jährige frühere Ölmanager ist stellvertretender Vorsitzender des Grafschaftsrats von Kent. Die Grafschaft hat untersuchen lassen, was im Ernstfall drohen könnte. Ihre Studie liest sich wie ein Katastrophenszenario: Müllberge in den Straßen, Arbeitnehmer, die nicht zur Arbeit kommen, Rettungswagen und Pflegedienste, die stecken bleiben. Selbst die Versorgung mit Lebensmitteln könnte in Gefahr geraten.
„Wir sehen Mobilität als selbstverständlich“, sagt Oakford. „Aber wenn sich die Leute nicht mehr frei bewegen können, werden sie Gefangene in ihren eigenen Dörfern.“ Seit Monaten touren Vertreter des Grafschafts- und des Bezirksrats von Dover, die beide von konservativen Politikern geführt werden, nach London: um die Entscheider auf die Risiken aufmerksam zu machen.
Es hat gedauert, bis sie gehört wurden. Dominic Raab, bis vor Kurzem Brexit-Minister, war noch im Amt, als er im November über den Hafen von Dover sagte: „Mir war nicht bewusst, welches Ausmaß das hat.“
Immerhin gibt es Notfallpläne. Allen voran die „Operation Brock“, die vorsieht, Abschnitte der M20 wieder zum Lkw-Parkplatz zu machen, genau wie eine zweite Schnellstraße und den vor Jahren stillgelegten Flughafen Manston nordöstlich von Dover. Hier auf dem Kent International Airport ließ die Londoner Regierung am 7. Januar den Brexit-Stau proben: 89 Lkw fuhren vom Airport zum Hafen von Dover und wieder zurück. Anschließend erklärte das Verkehrsministerium, die Tour habe sicherstellen sollen, dass es „einen wirksamen Plan für den Fall von Störungen nach dem EU-Austritt“ gebe. Oakford hat da seine Zweifel. „Im Ernstfall werden Tausende Lkw nach Manston kommen.“ Über schmale Sträßchen voller Schlaglöcher.
Fährdienst ohne Schiff

Im alten Hafen von Ramsgate, gut 20 Kilometer nördlich von Dover, baggert seit dem 3. Januar ein niederländisches Spezialschiff den Grund aus. Der kleine Hafen, den seit über fünf Jahren keine einzige Fähre mehr angelaufen hat, soll nun reaktiviert werden und Dover ein bisschen entlasten. 13,8 Mio. Pfund (gut 15 Mio. Euro) hat die britische Regierung dem Unternehmen Seaborne Freight dafür versprochen, dass es zwei Verbindungen täglich nach Ostende in Belgien einrichtet.
Es gab durchaus Spott für die Entscheidung. Das Unternehmen nämlich hat noch nie eine Fähre betrieben. Bis Mitte Januar verfügte es nicht einmal über ein Schiff. Als Journalisten einen Blick in die Allgemeinen Geschäftsbedingungen auf der Website warfen, entdeckten sie, dass die Terms and Conditions offenbar von einem Essenslieferdienst kopiert worden waren. Ob Seaborne so tatsächlich schnell für Entlastung sorgen kann, ist mehr als fraglich.
Doch auch jenseits des drohenden Verkehrsinfarkts dürfte der Brexit in Kent Spuren hinterlassen – bei den Unternehmen, die bislang die Nähe zum Kontinent nutzen. In einer kleinen Werkstatt an der Straße vom stillgelegten Airport zum Hafen von Ramsgate etwa bauen der Deutsche Kai Tönjes und seine französische Frau Claire Dugué Musikinstrumente in Handarbeit: Mandolinen, Busukis, Gitarren und Leierkästen.
Vor 18 Jahren sind sie hergekommen, haben eine Familie gegründet und lange das Leben an der Küste genossen. Aber jetzt denken sie darüber nach, Großbritannien zu verlassen. Der Brexit droht ihr Geschäft zu zerstören. „Ich habe mehrere EU-Kunden, die deswegen zögern, bei mir zu bestellen“, sagt Claire Dugué. Zoll und Einfuhrumsatzsteuer könnten die Produkte über Nacht um bis zu 40 Prozent verteuern, dann könnten sie nicht mehr mit der Konkurrenz aus Kontinentaleuropa mithalten. Und für Instrumente, die aus artengeschützten Hölzern gebaut sind, müssten sie womöglich spezielle Zertifikate vorweisen, damit sie in die EU exportieren dürfen.

Aber am meisten hat die beiden getroffen, dass einige Menschen in Ramsgate sie seit dem Brexit-Referendum anders behandeln. „Ich spreche mit meinen Kindern oft Deutsch, auch auf der Straße. Doch am Tag nach dem Referendum haben sich Leute plötzlich nach uns umgedreht“, sagt Tönjes.
64 Prozent der Wähler im Bezirk Ramsgate und 62 Prozent im Distrikt Dover haben für „Leave“ gestimmt. Die Region ist strukturschwach. Schon vor Jahrzehnten machten Kohlegruben und manche Industriebetriebe dicht, brach der einst blühende Tourismus zusammen. Dover ist eine Durchgangsstation geworden. Wer nicht im Hafen oder im Transportgewerbe arbeitet, hat vom nie enden wollenden Verkehr nicht viel, nur Abgase.
So mancher „Brexiteer“ hofft daher noch immer, dass alles besser wird nach dem 29. März. „Brüssel hat uns so viele Vorschriften gemacht, jetzt können wir wieder selbst entscheiden“, sagt Clifford, ein Rentner, der in Dover nahe dem Banksy-Graffiti seinen Hund ausführt.
Aber was ist mit den drohenden Staus? „In Frankreich haben sie dann auch Stau“, sagt er trotzig.