Wer Ende März in Hongkong war, dem bot sich ein unwirkliches Bild: Während ganz Europa gerade zum Stehen kam, tranken und feierten die Menschen in den Bars von Lan Kwai Fong ausgelassen. Zwar trugen die Hongkonger in der U-Bahn diszipliniert Atemschutzmasken und jedes Hotel maß die Temperatur des eintretenden Gastes, doch all diese Regeln schienen in den Bars in Central nicht zu gelten, in denen meist westliche Ausländer feierten.
Noch bis Mitte März sah es so aus, als sei die Strategie Hongkongs aufgegangen: Während das Coronavirus auf dem Festland und bald danach in Europa grassierte, gab es in Hongkong gerade einmal 100 Infizierte. Ähnlich wie Singapur hatte die Stadt früh eine Reihe von Maßnahmen erlassen: sofortiger Einreise-Stopp, Identifizierung und Isolation von Infizierten, strikte Quarantäne-Maßnahmen für alle, die Kontakt mit der Person hatten.
Doch mittlerweile hat sich die Lage geändert: Der Inselstaat an der Südspitze Chinas zählt über 1000 Infektionen. Noch immer wenig für eine Stadt von sieben Millionen Einwohnern, trotzdem fürchtet die Stadtregierung, langsam die Kontrolle zu verlieren. Ganz ähnlich ging es Singapur, wo es ebenfalls gelungen war, die Infektionen zunächst niedrig zu halten. Nun aber hat der Stadtstaat wegen einer zweiten Infektionswelle auch einen Lockdown verhängt. Die Gründe waren ähnliche.
Mitte März schloss die Stadtregierung von Hongkong die Grenzen für alle Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung. Eine Woche später folgte eine weitere Regelung, nach der alle Hongkonger nach ihrer Heimkehr zwei Wochen in strikte Quarantäne mussten. Das hatte zur Folge, dass zahlreiche Banker und Austauschstudenten noch schnell ihren Heimflug aus Großbritannien buchten, um der Quarantäne zu entgehen. Viele von ihnen gingen nach ihrer Ankunft geradewegs in eine der Bars von Lan Kwai Fong, um Bier zu trinken. So entstand die zweite Welle.
In der Folge schnellte die Zahl der Neuinfektionen von knapp 100 auf mittlerweile 1000 Fälle nach oben. Zahlreiche Cluster konnten die Behörden in den Bars von Central identifizieren. Sorge aber bereitet die Tatsache, dass sich nicht mehr alle Infektionen lückenlos nachverfolgen ließen - das nämlich bedeutet einen Kontrollverlust und eine Aufgabe der Containment-Strategie. Kurze Zeit später ließ die Stadtregierung unter Carie Lam die Bars schließen.
Ich kann keine Strategie erkennen, höchstens Taktik
Stefan Kracht, Fiducia
Zu schaffen macht vielen vor allem die Unsicherheit, denn die Regelung bezog sich zunächst auf Bars. Was mit Lokalen geschehen sollte, die zwar auch Alkohol aber vor allem Essen verkauften, war unklar. „Ich hätte nichts dagegen, wenn wir schließen müssen“, sagt ein junger Franzose, der ein Restaurant in der Aberdeen Street betreiben. „Dann könnten wir zumindest Mieterlass beantragen. So aber fehlen uns einfach die Gäste und wir machen Verlust.“
Stefan Kracht von der Unternehmensberatung Fiducia ist wenig überzeugt von der Strategie der Regierung. „Ich kann keine Strategie erkennen, höchstens Taktik“, sagt er. „Das deutsche Vorgehen, transparent Entscheidungen zu kommunizieren und die Kurve flach zu halten, war besser.“ Es sei höchste Zeit, auch nach sechs Monaten mit Protesten, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. „Wie lange will Hongkong die Grenzen für Reisende geschlossen halten?“
Die Corona-Krise gibt der Wirtschaft den Rest
Was die Krise auch bald für den Rest der Welt bedeuten kann, zeigt sich vielleicht jetzt schon in Hongkong. In Sheung Wan, einem der am dichtesten besiedelten und geschäftigsten Orte der Welt schließt derzeit gefühlt jeden Tag ein Laden - und das nicht für vorübergehend. Jahrelang florierte Hongkong, weil Millionen von Festlandchinesen die Stadt für einen längeren Einkaufstrip besuchten. Schon die Proteste im vergangenen Jahr trafen die Wirtschaft der Stadt hart. Die Covid-19-Krise nun gibt ihr den Rest. Hotelzimmer, die früher nicht unter 150 Euro zu bekommen waren, gibt es heute für 60 Euro. Wer seine 14 Tage Quarantäne am Stück bucht, erhält nochmals Rabatt.
Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft beschreibt Kracht als gemischt. „Exportfokussierte Einkaufsbüros haben gerade viel zu tun, um die letzten Wochen aufzuholen; der Einzelhandel deutscher Produkte leidet schwer; der Import zum Beispiel von medizinischen Artikeln wächst. Allerdings ist die Geschäftssituation insgesamt unklar.“ Noch sei es ungewiss, in welche Richtung sich alles entwickle. Das hängt wieder von der Reaktion der Regierung ab. Die Hongkonger Regierung hat ein massives Finanzpolster, aber noch weiß sie nicht im Detail, wie es eingesetzt werden soll.
Die zweite Infektionswelle gilt mittlerweile als unter Kontrolle, doch schon fürchtet man eine dritte Welle. Denn noch immer sind die Grenzen zum Festland für Hongkong-Chinesen geöffnet. Die letzten Fälle gehen auf Heimreisende aus der angrenzenden Provinz Guangdong zurück.
Das Dilemma der Stadt kann einen bitteren Vorgeschmack für das geben, was Europa und den USA noch bevorsteht: Auf einen Rückgang der Neuinfektionen folgt eine Lockerung, folgt ein Anstieg, folgt wieder eine Verschärfung der Maßnahmen. Dieses Spiel droht sich zu wiederholen, bis ein Impfstoff erforscht oder Herdenimmunität erreicht ist – mit massiven wirtschaftlichen Schäden.
Noch immer aber gehen die Bewohner Hongkongs vorbildlich mit der Krise um. Schon seit Wochen tragen nahezu alle Hongkonger eine Atemschutzmaske. In jedem Restaurant steht Desinfektionsmittel bereit. Und am Eingang wird die Temperatur der Gäste gemessen.
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