Der Mann, der gerade einen Orkan an der Wall Street ausgelöst hat, bleibt an diesem Morgen bemerkenswert ruhig. Es ist der 15. August, Harry Markopolos hat wenige Stunden zuvor einen 175-seitigen Report über General Electric veröffentlicht, in dem er dem Konzern vorwirft, ein gigantisches Loch in seiner Bilanz zu vertuschen – und damit den Aktienkurs auf Talfahrt geschickt. Jetzt sitzt Markopolos gleich vier Moderatoren des Wirtschaftssenders CNBC gegenüber. Er trägt eine unmögliche Kombination aus gepunktetem Hemd, gestreifter Krawatte und kariertem Sakko, das Haar wie immer seitwärts gescheitelt. Abwechselnd versuchen die Journalisten, ihn aus der Reserve zu locken.
„Warum haben Sie nicht mit dem Unternehmen gesprochen?“ „Warum gerade jetzt?“
„Was sehen Sie, was die ganze Wall Street nicht sieht?“
Markopolos lässt sich nicht beirren. „Ich bin ein zertifizierter Prüfer für Wirtschaftskriminalität“, belehrt er die Runde. „Ich weiß, welche Fragen man stellen muss. Ich weiß, wonach man suchen muss.“
An mangelndem Selbstbewusstsein leidet der Finanzanalyst nicht. Aber er ist auch nicht irgendjemand. Er ist der Mann, der vor allen anderen wusste, dass der Finanzbetrüger Bernie Madoff ein milliardenschweres Schneeballsystem betrieb. Jahrelang wurde er nicht ernst genommen, aber am Ende behielt er recht. Und nun? Hat sich Markopolos einen noch größeren Gegner vorgenommen: General Electric, den schlingernden Industriekoloss. Und wieder gibt es mächtig Gegenwind.
Der ewige Whistleblower
Überzogen, bekam Markopolos zu hören, sei seine Behauptung, General Electric verstecke ein 38 Mrd. Dollar großes Loch in der Bilanz. Unmoralisch sei das Vorgehen, sich von einem Hedgefonds bezahlen zu lassen, der am sinkenden GE-Kurs verdiene. Und ganz neu seien die Vorwürfe auch nicht – dass GE Probleme hat, ist kein Geheimnis. Wofür also das alles? Markopolos wird im Oktober 63. Er müsste sich das alles vermutlich nicht mehr antun. Sein gesamtes Berufsleben hat er in der Finanzbranche verbracht, seit 15 Jahren verdient er sein Geld mit dem Aufdecken von Wirtschaftsskandalen. Aber er ist ein Besessener, er hat eine Mission. „Ich bin ein Wahrheitssucher“, erklärte er auf CNN. Und er ist, wie das „Wall Street Journal“ einmal schrieb, wie viele Whistleblower „ein kleines bisschen verrückt“.
General Electric ist ein naheliegendes Ziel. Das Industriekonglomerat kämpft mit einer Fülle an Problemen. In den vergangenen drei Jahren hat die Talfahrt der Aktie circa 200 Mrd. Dollar Marktkapitalisierung vernichtet, der CEO wurde zweimal ausgetauscht. Die wichtige Kraftwerks- und Energiesparte steckt in der Krise. Dazu kommen gescheiterte Übernahmen, Altlasten, Fehlentscheidungen des Managements. Die SEC und das Justizministerium ermitteln bereits wegen Unregelmäßigkeiten in der Buchführung zweier Sparten.
Öl, Gas, Versicherungen - die Problemzonen von General Electric
In Markopolos’ Report geht es vor allem um zwei Vorwürfe. Erstens: GE bewerte seine Beteiligung am Öl- und Gasspezialisten Baker Hughes um 9 Mrd. Dollar zu hoch. GE hatte die Firma 2017 erworben und ist nun dabei, sie wieder abzustoßen. Noch hält der Konzern die Mehrheit der Anteile, weshalb die Baker-Hughes-Zahlen in der Bilanz konsolidiert wurden. Markopolos argumentiert, das Geschäft sei ein reines Finanzinvestment und müsse als solches schon jetzt niedriger bewertet werden.
Schwerwiegender ist der Vorwurf, für das Rückversicherungsgeschäft mit Pflegeversicherungen fehlten Rückstellungen in Höhe von 29 Mrd. Dollar. Eigentlich galt GE Capital, die bis zur Finanzkrise massiv aufgeblähte und später zurechtgestutzte Finanzsparte des Konzerns, als von Versicherungsaltlasten bereinigt. Noch 2016 erklärte der damalige CFO Keith Sherin: „Das ganze Versicherungsgeschäft ist weg.“ Das entsprach wohl nicht ganz der Wahrheit. Aus der Zeit vor 2006 verblieb ein substanzielles Geschäft, vor allem eines, das mit zu optimistischen Prognosen eingegangen wurde – die Amerikaner leben länger als gedacht, und die Zinsen sind niedriger als erwartet. Anfang 2018 musste GE einräumen, dass zusätzliche Rückstellungen von 15 Mrd. Dollar benötigt werden und dass GE Capital auf absehbare Zeit keine Dividende an die Konzernmutter ausschütten wird.

Das sei bei Weitem nicht genug, sagt Markopolos, der sich für seine Berechnungen auf Zahlen aus öffentlich zugänglichen Quellen verlassen hat – Insidertipps hat er diesmal nicht. Er habe sieben Monate lang mit einem Team die Zahlen gewälzt. In der Summe gehe es um 38 Mrd. Dollar, einen Betrag, den das bereits massiv verschuldete Unternehmen kaum verkraften könnte. „Sie sind eine Rezession von der Insolvenz entfernt“, sagt Markopolos.
Das Unternehmen weist sämtliche Anschuldigungen zurück: „GE arbeitet auf höchstem Niveau der Integrität und steht zu seiner Finanzberichterstattung.“ CEO Larry Culp wirft dem Whistleblower „Marktmanipulation“ vor.
In „No One Would Listen“, seinem Buch über den Madoff-Skandal, beschreibt Markopolos sich selbst als jemanden, der „die Sprache der Zahlen“ beherrsche. „Zahlen können die ganze Geschichte erzählen. Ich kann Schönheit, Witz und manchmal Tragik in ihnen erkennen.“ Ende der 80er-Jahre beginnt er seine Karriere in der Finanzindustrie, erst als Börsenmakler, später als Portfoliomanager bei der Investmentfirma Rampart in Boston. Sein dortiger Chef setzt ihn 1999 auf Bernie Madoff an – nicht um ihn zu enttarnen, sondern um ihn zu kopieren. Madoff, Chairman der Technologiebörse Nasdaq, ist ein hoch angesehener Wertpapierhändler. Dass er nebenher Milliarden für überwiegend wohlhabende Anleger verwaltet, ist öffentlich gar nicht bekannt. Nur über Umwege erfahren die Rampart-Leute, dass Madoff ein unfassbar guter Investor sein soll, der zwar keine Wahnsinnssummen verdient, aber so gut wie nie Verluste macht.
Markopolos soll Madoffs Produkt nachbauen. Er besorgt sich alles, was er über den Fonds bekommen kann – und erkennt schnell, dass dessen Erfolgsbilanz nicht zu replizieren ist. „Ich wusste sofort, dass diese Zahlen keinen Sinn ergaben“, erinnert er sich. Auf legalem Wege hätte Madoff seine Rendite nie erwirtschaften können, da ist sich Markopolos sicher. Aber wie betrügt er? Zusammen mit zwei Kollegen beginnt er eine Spurensuche, die ihn fast ein Jahrzehnt beschäftigen wird.
Erst glauben sie, Madoff nutze sein Insiderwissen als Börsenhändler, um den Markt zu schlagen. Doch dann finden sie gar keine Indizien dafür, dass Madoff überhaupt am Markt handelt – obwohl er ihren Schätzungen zufolge mindestens 6 Mrd. Dollar managt. Es bleibt nur eine Erklärung: Er betreibt ein Schneeballsystem. Madoff scheint seinen Altanlegern Renditen zu zahlen, indem er das Geld neuer Anleger umschichtet. Im Frühjahr 2000 reicht Markopolos eine Beschwerde bei der Wertpapieraufsicht SEC ein. Doch nichts passiert. Ein Jahr später versucht er es erneut, bietet sogar an, undercover bei Madoff einzusteigen. Keine Reaktion.
Ein Gewehr neben dem Bett
Markopolos wittert eine Verschwörung. Madoff, glaubt er, wird von ganz oben gedeckt. Er fürchtet um die Sicherheit seiner Familie. Markopolos geht davon aus, dass südamerikanische Kartelle und die russische Mafia zu Madoffs Geldgebern gehören, was bis heute unbewiesen ist. Er besorgt sich ein Gewehr, das er in der Nähe seines Betts aufbewahrt. Bevor er seinen Minivan anlässt, untersucht er den Unterboden auf mögliche Bomben. Sollte Madoff ihn bedrohen, schreibt er in seinem Buch, „würde ich runter nach New York fahren und ihn erledigen“.
Markopolos’ Rampart-Kollegen nennen ihn einen „liebenswerten Nerd“ und „verrückten Professor“. Seine wahnhafte Angst vor Verfolgung teilen sie nicht. „Wir fühlten uns nie unsicher“, sagt einer 2011 in einem Dokumentarfilm.
2004 verlässt Markopolos die Investmentfirma, frustriert von „all der Korruption“, die er an der Wall Street erlebt. Er beginnt, als Betrugsermittler für Anwaltskanzleien zu arbeiten. Doch Madoff lässt ihn nicht los. Immer wieder nimmt er – erfolglos – Kontakt zu Behörden und Medien auf. Am Ende ist es die Finanzkrise, die Madoff im Dezember 2008 in die Knie zwingt. Er kann sein System nicht mehr mit frischem Geld versorgen. Im Jahr darauf wird er zu 150 Jahren Haft verurteilt.
Markopolos hatte recht – und wird nun gefeiert wie ein Held. Er sagt vor dem Kongress aus, wo er der SEC „verwerfliches Versagen“ vorwirft und erklärt, er habe „für unsere Flagge, für den Patriotismus“ gehandelt.
Die SEC steht unter massivem Druck, sich zu reformieren. Eine der wichtigsten Änderungen ist die Einrichtung eines Geld-für-Tipps-Programms, für das sich Markopolos starkgemacht hat: Die Behörde kann Whistleblower nun belohnen, wenn dank deren Hinweisen Betrügereien aufgedeckt werden – sie können zwischen zehn und 30 Prozent der Strafsumme bekommen. Das bewährt sich – inzwischen gehen mehrere Tausend Tipps pro Jahr ein – und lässt eine eigene Industrie aus Anwälten und Detektiven entstehen, die Whistleblower systematisch rekrutieren, um an das Geld der SEC zu kommen. Mittendrin in dem neuen Markt: Harry Markopolos.
General Electric ist das erste Opfer
Er beschäftigt sich jetzt mit unterfinanzierten Pensionsrücklagen des Bostoner Nahverkehrsbetreibers, mit Betrug im öffentlich finanzierten Gesundheitssystem für Ältere und der mutmaßlich frisierten Bilanz des Versicherers AmTrust. Auch an der Aufdeckung eines Bankenskandals ist er beteiligt – die Institute State Street und BNY Mellon hatten Kunden bei Fremdwährungsgeschäften benachteiligt und zahlten dafür 530 beziehungsweise 714 Mio. Dollar Strafe. An die 100 Mio. davon stünden seinem Team zu, erklärt Markopolos Ende 2018, doch die Entscheidung darüber ziehe sich seit Jahren hin. „Ich vertraue nicht darauf, dass die SEC uns zeitnah auszahlt.“ Er werde daher seine Strategie ändern und nun börsengelistete Unternehmen ins Visier nehmen – bezahlt von Shortsellern, die auf fallende Kurse setzen. Das erlaube es ihm, „im gleichen Jahr bezahlt zu werden, in dem ich meine Arbeit verrichte“.
Das erste Opfer, das sich Markopolos’ in Puerto Rico registrierte Firma zusammen mit einem ungenannten US-Hedgefonds aussucht, ist General Electric. Am Tag der Veröffentlichung seines Reports gibt die Aktie um mehr als elf Prozent nach, um sich nach ein paar Tagen wieder etwas zu erholen. Markopolos sieht sich Kritik und Unverständnis ausgesetzt – mal wieder. Der Madoff-Jäger habe „seine Berühmtheit ausgenutzt, um neues Licht auf ein altbekanntes Problem bei GE zu werfen“, meint ein Händler. Die meisten Analysten und Investoren stellen sich auf die Seite von GE: Ja, es gebe Probleme, aber keine existenzgefährdenden.
Vielleicht will aber auch niemand wahrhaben, wie schlecht es GE wirklich geht. Denn ginge der Industriekoloss in die Knie, käme das einer zweiten Lehman-Pleite gleich – nur mit viel mehr Arbeitsplätzen. Spätestens wenn die Konjunktur abkühlt, dürfte sich zeigen, wer recht hat.
Ein Ziel hat Markopolos bereits erreicht. Am Kursrutsch dürfte der mit ihm kooperierende Hedgefonds gut verdient haben – und somit auch er selbst. Vielleicht hat er nun längst ein neues Ziel vor Augen. Über einen Mittelsmann gelingt es, ihm eine Gesprächsanfrage zukommen zu lassen. Er sei an weiteren Interviews nicht interessiert, schreibt er zurück. „Ich nehme den Rest des Jahres frei – hoffentlich.“ So entspannt kann wohl nur jemand reagieren, der schon mal ein Jahrzehnt lang darauf gewartet hat, recht zu bekommen.
Der Beitrag ist in Capital 10/2019 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay