Auch wenn Ihre Welt nur noch aus Nullen und Einsen besteht, aus Millionen und Milliarden und sich Ihr Leben zwischen Hong Kong, New York und den Bahamas abspielt – am Ende bleiben Sie doch ein Mensch, mit allen guten Seiten und allen negativen. „Ich war auf dem Titelblatt jedes Magazins“, schrieb Sam Bankman-Fried in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag im Kurznachrichtendienst Twitter. Seine Kryptobörse FTX sei „der Liebling des Silicon Valley“ gewesen. Und kleinlaut fügte er hinzu: „Wir wurden übermütig und sorglos.“
Mit diesem Eingeständnis von Eitelkeit und Hybris endete diese Woche eine Geschichte, die spektakulärer und größer kaum sein konnte – und deren Folgen wir erst langsam ermessen. Sam Bankman-Fried, in der Szene nur SBF genannt, wohnhaft in Nassau auf den Bahamas, ist gerade mal 30 Jahre alt, das von ihm gegründete Unternehmen sogar nur gute drei.
Und doch war SBF ein Star, ein Gott der Kryptobranche. Seine Handelsplattform FTX, 2019 erstmals am Markt, war eine der größten Börsen für Kryptowährungen auf der ganzen Welt, zuletzt bewertet mit 32 Mrd. Dollar. Bis vor kurzem wickelte das Unternehmen Geschäfte im Wert von zig Milliarden Dollar ab, jeden Tag. Zu seinen Investoren zählten die wichtigsten Großinvestoren der Welt, der legendäre Start-up-Finanzier Sequoia Capital ebenso wie Softbank, der Vermögensverwalter Blackrock und der Staatsfonds von Singapur, Termasek.
Es war ein Märchen
Eines Tages, sagte Bankman-Fried vor etwas mehr als einem Jahr in einem Interview mit der „Financial Times“, wolle er die Investmentbank Goldman-Sachs übernehmen. Und für nicht wenige klang das nicht nach Größenwahn, sondern war eine Verheißung. Denn der junge Gründer war anders. Bescheiden, freundlich, einer von den Guten. Wenn er auf einer Bühne stand, dann oft etwas unbeholfen in T-Shirt und kurzen Hosen, seine Haare trug er wild und verwuschelt, er wirkte immer ein bisschen wie aus der Welt gefallen – einen Eindruck davon konnte man auch auf der Finance Forward-Konferenz in Hamburg in diesem Frühsommer gewinnen. Sein ganzes Vermögen wolle er dereinst spenden, versprach er. Und er forderte etwas ein, was in der Szene der Coins und Wallets so dringend fehlt, was die meisten Fans des digitalen Geldes aber vehement ablehnen: Kontrolle, Regeln, Regulierung.
Es war ein Märchen, zu schön, um wahr zu sein. FTX ist insolvent, in den Büchern fehlen ersten Schätzungen zufolge zwischen 1 und 8 Mrd. Dollar. Noch nie in seiner Karriere habe er ein „so vollständiges Versagen der Unternehmenskontrollen erlebt wie in diesem Fall“, sagte der zum Sanierer bestellte Insolvenzanwalt John J. Ray. Und Ray muss es wissen, er wirkte schon an der Aufarbeitung des Enron-Skandals mit. Rays Bericht liefert einen Eindruck von den haarsträubenden Versäumnissen bei FTX, Rays ganzen Bericht finden Sie hier. Zwei Kostproben: Ausgaben des Unternehmens wurden einfach per Chat mit personalisierten Emojis freigegeben, und zwar von irgendeinem Vorgesetzten, der gerade da war. Eine Liste aller Bankkonten existiert ebenso wenig wie eine Übersicht aller Mitarbeiter.
SBFs große Geldgeber haben ihre Millionen schon abgeschrieben. Aber mehr als eine Million Kunden weltweit bangen noch um ihr Geld – Einlagen, die sie bei FTX deponiert haben und an die sie nun nicht mehr rankommen.
Irgendwer kauft den Schrott schon
In vielerlei Hinsicht erinnert die Geschichte an den Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008. Mangelnde interne Kontrollen, eine fehlende wirksame Aufsicht, hyperkomplexe Geschäfte – und eine dramatische Naivität auf allen Seiten, im Glauben, dass die Geschäfte schon immer irgendwie weitergehen werden. Oder, anders gesagt: Dass man schon eine Dumme oder einen Dummen finden würde, die den Schrott noch kaufen. Bei Lehman ging es um verbriefte Immobilienkredite für Häuser und Darlehen, die längst niemand mehr bewohnte und bezahlte, heute um irgendwelche Quatschcoins, die von irgendwem in die Welt gesetzt werden und die angeblich unser Finanzsystem revolutionieren werden.
SBF etwa gab mit FTX irgendwann seine eigene Kryptowährung aus, genannt FTT. Was ihr Zweck war, wurde nie ganz klar, aber sie war handelbar an einigen Kryptobörsen, hatte dort einen Kurs (am 1. November noch mehr als 26 Euro) und diente offenbar als Sicherheit für SBFs zweites wichtiges Unternehmen, den auf Kryptogeschäfte spezialisierten Hedgefonds Alameda. Der wiederum war bei etlichen früheren Kryptopleiten in diesem Sommer in Schieflage geraten und wurde offenbar aus den Kundeneinlagen von FTX und mit der eigenen Währung FTT gestützt. Als in der vergangenen Woche bekannt wurde, dass große Teile der Sicherheiten bei Alameda auf der FTX-Währung FTT beruhten, brach das ganze System binnen Stunden in sich zusammen.
Die gute Nachricht ist – und hier enden die Parallelen zu Lehman – eine alte Zockerweisheit: What happens in Vegas, stays in Vegas. Eine große Ansteckung des regulären Finanzsystems oder gar der realen Wirtschaft wie bei Lehman hat es bisher nicht gegeben. Millionen Menschen verlieren ihre Ersparnisse oder zumindest einen Gutteil ihres Vermögens, aber Jobs gehen dadurch schlimmstenfalls in ein paar Büroetagen verloren. Innerhalb der Kryptobranche aber breiten sich die Wellen sehr wohl aus. Diese Woche etwa stoppte der Kryptobroker Genesis die Auszahlung von Guthaben und die Vergabe neuer Kredite. Mehrere Kryptobanken, Börsen und Fonds, die auf Coins und ihre verwandten Dienstleister setzen, stehen ebenfalls vor dem Aus.
Kryptowährungen haben keinen Wert an sich
Nun fragen viele: Ist Krypto tot? Sicher nicht, aber die wichtigere Frage lautet eher: Was von der Kryptowelt wird überleben, und wie? Die heutigen Digitalwährungen – wie viele es genau gibt, weiß inzwischen niemand mehr, aber Schätzungen kommen auf mehr als 10.000 – werden eher nicht dazu gehören. Die meisten sind bloße Spaßprojekte. Auch der Bitcoin hat als Zahlungsmittel schon lange keine Funktion mehr, nicht mal als Wertobjekt („ein Goldersatz“) taugt er. Er ist ein Spekulationsobjekt für Zocker, die damit viel Geld verdienen und verlieren können, und für all jene, die aus welchen Gründen auch immer abseits des regulären Bankensystems größere Summen Geld transferieren wollen.
Schon qua Amt beobachtet die Chefin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, das Treiben der Kryptoszene argwöhnisch. Doch ihr Befund muss deshalb nicht falsch sein: „Meine sehr bescheidene Einschätzung ist, dass Kryptowährungen nichts wert sind. Sie basieren auf nichts, es gibt keine zugrundeliegenden Vermögenswerte, die als Sicherheitsanker dienen könnten“, sagte Lagarde vor einigen Monaten in einem Interview. In der Branche bezog sie dafür viel Spott, Häme und Kritik – doch spätestens der FTX-Crash bestätigt sie eindrucksvoll. Kryptowährungen haben – anders als ihre Fans immer behaupten – keinen Wert an sich. Sondern ihr Wert basiert, wie übrigens auch beim berühmten Fiat-Geld der Notenbanken, auf Vertrauen: Vertrauen, dass andere das Geld als werthaltig betrachten und als Zahlungsmittel akzeptieren. Vertrauen, dass damit nicht an irgendeiner Stelle Werte vorgetäuscht oder hinterzogen werden.
Beim Zentralbank-Geld stehen dafür Staaten und Notenbanken ein – mal mehr, mal weniger glaubwürdig. Bei Kryptowährungen ist das Abwicklungssystem dahinter, das eigentlich Vertrauen schaffen soll, ungleich komplexer, intransparenter und offensichtlich fälschungsanfälliger. Ausgerechnet FTX galt in der Branche als besonders seriöser Anbieter unter den Kryptobörsen. Kein Wunder, dass große Vermögensverwalter sich jetzt aus dem Markt zurückziehen. „Mindestens fünf Prozent in Krypto, so wie Gold“ – diese Standardempfehlung für größere Depots aus den vergangenen Jahren hat sich in diesen Tagen erledigt. Und sie wird auch für lange Zeit nicht mehr zurückkommen.
Es wird eine regulierte Kryptowelt entstehen
Das gilt auch dann, wenn Notenbanken und Aufsichtsbehörden den Markt und die Anbieter nun stärker kontrollieren werden. Wahrscheinlich wird sich die Industrie aufspalten: Neben einer ziemlich wilden und unkontrollierten Welt im Halbdunkel, in der Zocker und Kriminelle auf ihre Kosten kommen, wird eine regulierte Kryptowelt entstehen, in der staatliche und private Digitalwährungen sogar nebeneinander funktionieren können – aber längst nicht mehr so große Abenteuer und Renditen versprechen wie heute.
Was darüber hinaus noch bleibt, sind die Technologien dahinter – die Blockchain und die verwandte Welt von Ethereum etwa: Technische Möglichkeiten, digital schnell und sicher Geschäfte und Verträge abzuschließen. Diese Technologien finden weit über die Finanzindustrie hinaus bereits Anwendungen und werden wachsen – mit allen Dienstleistungen und Infrastrukturen, bis hin zur Chipindustrie und den Anbietern der dafür nötigen, riesigen Rechenzentren.
Gut möglich, dass Sam Bankman-Fried diese Entwicklungen bald aus einer Gefängniszelle in den USA verfolgen kann. Das FBI beantragte am Mittwoch bei den Behörden der Bahamas seine Auslieferung.