Emmanuel Macrons Sieg bei der ersten Runde der französischen Präsidentenwahl wurde in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten nicht triumphierend, sondern erleichtert aufgenommen. Nur vier Prozentpunkte trennten die vier Top-Kandidaten. Das Albtraum-Szenario einer Stichwahl zwischen einem linken Anti-Euro-Kandidaten und einer rechten Euro-Gegnerin wurde nur äußerst knapp vermieden. Und auch wenn die Umfragen richtig sind, und Macron die zweite Runde gegen Le Pen klar gewinnt, darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass dies gleichbedeutend ist mit einer vorbehaltlosen Billigung seiner pro-europäischen, liberalen Wirtschaftsagenda.
Es geht am Sonntag nicht um die Entscheidung zwischen Nationalismus und Globalisierung, wie Le Pen behauptet. Es ist auch ein Wettkampf der Werte. Sollte Macron gewinnen, dürfte ein Grund sein, dass laut Umfragen rund 60 Prozent der französischen Wähler der Auffassung sind, Le Pen und ihr Front National seien eine Gefahr für die Demokratie.
Macron vs Le Pen: klare Alternativen
Diese Wahl bietet den Franzosen den größtmöglichen Gegensatz. Im Kern geht es um das Thema Sicherheit. Le Pen argumentiert, dass Frankreich seine Bürger nur durch den Austritt aus der EU und dem Euro schützen kann. Und sie sagt, dass die Herausforderungen durch den Terrorismus und die illegale Zuwanderung durch das Verlassen Schengen-Raumes und die Sicherung der nationalen Grenzen zu meistern sind. Außerdem behauptet sie, dass das großzügige französische System der sozialen Sicherheit und des Kündigungsschutzes nur aufrechterhalten werden kann, wenn man die ökonomische Zwangsjacke der Mitgliedschaft in der gemeinsamen Währung abstreift.
Dagegen argumentiert Macron, die Ursachen für die Unsicherheit seien überall in Europa gleich und erforderten deshalb auch eine gemeinsame europäische Vorgehensweise. Den Risiken des Terrorismus und der illegalen Zuwanderung will er durch eine Stärkung der EU-Grenzen begegnen und nicht durch die Schließung der französischen Grenzen. Und er argumentiert, eine Entscheidung für das Verlassen der Eurozone werde Chaos und Unsicherheit noch vergrößern. Der Weg zu mehr Sicherheit liege bei der Verbesserung der französischen Wettbewerbsfähigkeit und der Reform seines Sozialmodells, das sich stärker darauf konzentrieren müsse, den Einzelnen durch eine aktive Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik zu schützen, anstatt die Priorität auf den Erhalt von Jobs zu legen.
Sollte Macron gewinnen, wird die EU glauben, sie habe jetzt eine Atempause verdient. Das Risiko für das Auseinanderbrechen der Eurozone oder eines weiteren Brexit-artigen Zerfalls der EU wird bei den noch anstehenden Wahlen in Europa sicherlich geringer. Die EU wird höchstwahrscheinlich ein paar Jahre mehr Zeit haben, das Vertrauen der Wähler zurückzugewinnen und zu zeigen, dass sie in der Lage ist, gemeinsame Probleme zu lösen.
Frankreich braucht Reformen
Ob sie Erfolg hat, wird zu einem großen Teil von Macron selbst abhängen. Um Europa zu reformieren, muss er zunächst beweisen, dass er Frankreich reformieren kann. Es gilt alle Schwachstellen der Wirtschaft zu reformieren, die Ökonomen schon seit langem als entscheidend für das Wohlergehen Frankreichs ansehen und an denen sich die unterschiedlichen Regierungen seit 20 Jahren abarbeiten. Dazu gehören die Senkung von Steuern für Arbeitgeber, die Neueinstellungen behindern; die Vereinfachung von Arbeitsmarktregeln, die Investitionen erschweren; und die Kürzung der Staatsausgaben, um das Defizit und die hohe Schuldenlast in den Griff zu bekommen.
Macron hat versprochen an alle drei Fronten aktiv zu werden. Um erfolgreich zu sein, muss er zunächst eine Regierungskoalition in der Nationalversammlung nach der Wahl im Juni schmieden. Dann gilt es den unvermeidlichen Widerstand maßgeblicher Kreise in den Gewerkschaften zu überwinden, der frühere Reformversuche behindert hat – einschließlich seiner eigenen unter der Vorgängerregierung. Diese Herausforderung wird ein harter Test für Macrons politische Kunst.
Wahrscheinlich wird sich schon die Reform Frankreichs als schwierig erweisen, umso größer ist die Herausforderung, die EU zu reformieren. Macron hat vorgeschlagen, einen europäischen Haushalt mit einem europäischen Finanzminister zu schaffen, aber solche Gedanken trafen in Deutschland in der Vergangenheit auf erbitterten Widerstand. Die Deutschen sind sehr zurückhaltend, was Transfers zwischen Mitgliedstaaten angeht.
Macron hat ein paar Trümpfe in der Hand
Abgesehen davon ist auch die Bundesregierung der Auffassung, dass Reformen insbesondere der Eurozone notwendig sind, und Berlin hofft, dass sich Macron als nützlicher Partner bei der Reform der Eurozone erweist. Die EU-Kommission wird bald detaillierte Vorschläge für neue Initiativen vorlegen, die in Richtung eines Stoßdämpfers für die gemeinsame Währung gehen sollen. Aber wie immer ist der Preis für die Zustimmung Deutschlands zu Vorschlägen für die Vertiefung der wirtschaftlichen und finanziellen Integration die Aufgabe von Souveränität, was französischen Regierungen immer schwer gefallen ist.
Einige Stimmen sagen, diese Hindernisse seien unüberwindbar, womit Macrons Präsidentschaft zum Scheitern verurteilt wäre. Aber das erscheint voreilig. Wenn Macron gewinnt, startet er mit Rückenwind. Er übernimmt eine wachsende Wirtschaft mit einer schrumpfenden Arbeitslosigkeit, wodurch sich das Klima für Reformen verbessert. Und er hat sich keine Wahlversprechen aufgehalst von der Sorte, die seinem Ex-Boss Francois Hollande die Glaubwürdigkeit kostete. Der scheidende Präsident hat sich nie von dem Schaden erholt, den er sich mit seinen Steuererhöhungen in den ersten beiden Amtsjahren selbst zugefügt hat.
Macron könnte außerdem vom Bewusstsein einer nationalen Dringlichkeit profitieren, zumal das zu erwartende starke Abschneiden Le Pens am Sonntag deutlich die Konsequenzen eines Fehlschlags unterstreichen könnte. Bislang hat sich Macron als Politiker mit Mut, Entschlossenheit und vor allem Glück erwiesen. Er wird alles drei brauchen, denn es kann gut sein, dass der Wahlsieg der leichtere Teil der Übung war.
Copyright The Wall Street Journal 2017
Newsletter: „Capital- Die Woche“
Jeden Freitag lassen wir in unserem Newsletter „Capital – Die Woche“ für Sie die letzten sieben Tage aus Capital-Sicht Revue passieren. Sie finden in unserem Newsletter ausgewählte Kolumnen, Geldanlagetipps und Artikel von unserer Webseite, die wir für Sie zusammenstellen. „Capital – Die Woche“ können Sie hier bestellen: