Vor zwei rund zwei Jahren, als der Italiener Mario Draghi Präsident der Europäischen Zentralbank wurde, hatten viele Deutsche Angst. Daran war im Licht der unterschiedlichen Erfahrungen mit Inflation in Italien und Deutschland nichts „Perverses“. Seitdem aber haben Draghi und die EZB für Deutschland geliefert: niedrige Inflation, Finanzstabilität, eine starke Währung, ruhige Märkte und generellen Wohlstand, sodass die einst verständliche Angst vor einem Italiener an der EZB-Spitze immer voreingenommener und wie ein perverse Realitätsleugnung anmutet.
Im Interview mit dem „Spiegel“ Ende Dezember gab Draghi den Deutschen folgende Botschaft mit auf dem Weg: Messt uns in der EZB an dem, was wir für Euch erreicht haben, und nicht an dem, was die Kritiker über uns sagen. Und habt Vertrauen, dass die EZB, sogar unter der Führung eines Italieners, sich um Eure Interessen so gut wie niemand anders kümmern wird. Das ist mehr als ein Appell. Draghi ist zuversichtlich, dass die Deutschen ihre realen Vorteile zu schätzen wissen.
Ja, es fällt selbstbewussten Menschen mit sogennanten „Ansichten“ oft schwer zuzugeben, dass sie sich geirrt haben. Selbst wenn sie sonst stur und voruteilsbeladen wirken. Bundesbankpräsident Jens Weidmann war von Beginn an gegen das unbegrenzte Anleihekaufprogramm OMT. Aber obwohl dieses EZB-Programm zu einer nachhaltigen Beruhigung der Märkte geführt hat, fühlte sich Weidmann berufen, die deutsche Öffentlichkeit zu warnen, dass diese Ruhe nicht so gut sei wie sie aussehe.
Sinn muss sich bei Draghi entschuldigen
Soll das ein Witz sein? Will der Chef der Bundesbank wirklich eine Rückkehr zu dem Chaos, das den Euro vor der Einführung des OMT-Programms bedroht hat?
Ich kenne Professor Hans-Werner Sinn als ausgezeichneten Ökonom und als liebenswerte Persönlichkeit. Wir waren einst Kollegen. Aber warum lässt Sinn sich zu der Behauptung hinreißen, dass Draghi die EZB-Zinsen im November vor allem zum Wohle Italiens gesenkt hat. Was ist mit den deflationären Risiken in der Eurozone? Die Behauptung ist absurd, beleidigend und schädlich für die europäische Solidarität.
Hätte Professor Sinn seine Hausaufgaben gemacht, hätte er herausgefunden, dass Draghi monatelang vor dem Zinsschritt in November auf der Seite der Bundesbank stand und so eine anderweitig klare Mehrheit im EZB-Rat aufhielt, die schon viel früher die Zinsen senken wollte. Draghi kam im EZB-Rat sogar in die Kritik, zu Deutschland-freundlich zu sein. Soll das italienische Selbstbedienung sein? Professor Sinn, Sie schulden Mario Draghi eine Entschuldigung.
Gefahr einer importierten Inflation
Der Zeitpunkt für Draghis Interview mit dem Spiegel war kein Zufall. Das Bundesverfassungsgericht wird voraussichtlich im Januar über die Verfassungskonformität des OMT-Programm urteilen. Der EZB-Präsident weiß, dass die Meinung der deutschen Öffentlichkeit in dieser Angelegenheit zählt. Wenn diese wohlwollend gegenüber Draghi und der EZB ist, könnte das Gericht dieses in seinem Urteil berücksichtigen.
Sicher, viele Deutsche halten das unbegrenzte Anleihenkaufprogramm für eine reine Zeitverschwendung zum Wohle der europäischen Peripheriestaaten. Aber auch Deutschland hat davon profitiert, und es ist interessant zu spekulieren, welche Folgen ein negatives Urteil aus Karlsruhe für die Deutschen haben würde.
Der Euro würde steil fallen und damit die Wahrscheinlichkeit einer importierten Inflation erhöhen. Die langfristigen Zinsen für Deutschland würden weiter fallen, Deutschland würde als sicherer Hafen noch attraktiver – zu Lasten der deutschen Sparer. Die deutschen Steuerzahler müssten mit größeren Summen für weitere Bailouts für die Peripherieländer gerade stehen. Und die ruhigen Märkte, die die Kanzlerin benötigt, um ihre Reform der EU nach deutschem Vorbild voranzutreiben, wären von gestern. Hört sich das nach einem gutem Deal für Deutschland an?
OMT-Programm funktioniert wie die nukleare Abschreckung
Manchmal hört man das Argument, das beste Ergebnis der Karlsruher Richter wäre es, das OMT-Programm zu billigen, aber eine Grenze einzuziehen. Wäre das vernünftig an? Nein, ganz oder gar nicht.
Das OMT-Programm funktioniert wie die nukleare Abschreckung während des Kalten Krieges. Es war eben die Gefahr eines unbegrenzten Gegenschlags, die die verfeindeten Blöcke auf Distanz hielt. Ebenso ist es die Drohung, dass die EZB unbegrenzte Ressourcen hat, um Spekulanten auszulöschen, die diese in Schach hält.
Man sollte sich daran erinnern, dass das OMT-Programm noch nie zum Einsatz gekommen ist – genauso wie der Kalte Krieg nie zu einem heißen Krieg wurde. Limits würden die Abschreckung zunichte machen.
Die Deutschen brauchen also keine „perverse Angst“ zu haben, um es in Draghis Worten zu sagen, dass das OMT-Programm Deutschland nichts bringen wird. Sie wissen aus Erfahrung, dass es das tun wird. Angst ist dagegen berechtigt vor der Möglichkeit, dass es zu Grenzen durch Politik oder Gerichte kommt. Mir jedenfalls verursacht das eine Höllenangst.