Vor zehn Jahren traten zehn Länder der Europäischen Union bei. Heute sind Zypern, Tschechien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowenien und die Slowakei allgemein als vollständig integrierte europäische Länder anerkannt. Diese neue Normalität – die von den politischen und wirtschaftlichen Verzerrungen des Kalten Krieges weitgehend frei ist – wurde durch den Fall der Berliner Mauer 1989 und den anschließenden profanen und langwierigen EU-Beitrittsprozess in Gang gebracht.
Auf diesem Weg befindet sich nun die Ukraine – ohne das Versprechen eines vollständigen Beitritts. Da momentan eine weitere Ära geopolitischer Spannungen über den europäischen Kontinent legt, lohnt es sich zu diesem Jubiläum daran zu erinnern, was der neue Normalzustand für die Länder bedeutet, die der EU vor zehn Jahren beigetreten sind – und was er für die Ukraine bedeuten könnte.
Die „fehlende Mitte“ Europas, die durch den Eisernen Vorhang abgetrennt war, wurde wieder hergestellt. Der Handel in der Region blühte auf und wandte sich auf natürliche Weise in Richtung EU, dem größten Markt der Welt. Die Investitionen flossen – genau entsprechend wirtschaftlicher Theorien – in die andere Richtung: von kapitalstarken in kapitalschwache Länder.
Der Unterschied, den die EU-Mitgliedschaft gemacht hat, wird durch einen Vergleich zwischen Polen und der Ukraine unterstrichen. 1989 hatten die beiden Länder etwa den gleichen Lebensstandard, heute sind die Polen dreimal reicher. Der Einkommensunterschied zwischen Polen und Westdeutschland ist heute geringer als jemals zuvor seit dem Jahr 1500.
Die EU-Mitgliedschaft hat Polen verändert
Angesichts der Tatsache, dass das Gesamt-BIP der EU achtmal so groß ist wie das von Russland, sollte man erwarten, der Weg der Ukraine in Richtung Normalität würde darin bestehen, dass der Außenhandel des Landes von der EU dominiert wird. Dazu wäre kein völliger Bruch mit Russland erforderlich, dessen Bedeutung für die polnischen Exporte sich seit 2004 verdreifacht hat. Angesichts der geografischen Nähe und der industriellen Verflechtung zwischen Russland und der Ukraine ist das Potenzial des Handels zwischen diesen beiden Ländern noch viel größer.
Aber beim neuen Normalzustand geht es auch um Demokratie und Würde. Es ist kaum vorstellbar, dass das, was momentan mit der Sozialstruktur der östlichen Ukraine geschieht, in Polen geschehen könnte.
Der EU-Beitritt Polens hat zweifellos zur außergewöhnlichen institutionellen Transformation des Landes beigetragen. Wie die Ukraine litt auch Polen in den Jahren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus unter ausufernder Korruption. Aber wenn man heute die Korruptionsindikatoren betrachtet, steht das Land besser da als viele alte EU-Mitglieder. Die gewissenhafte Anwendung von EU-Regeln und Regulierungsmaßnahmen, die dazu beigetragen hat, dass Polen Ende der 1990er Jahre ein normales europäisches Land wurde, könnte auch der Ukraine helfen, ihre Dämonen der Bestechung, Vetternwirtschaft und Klientelpolitik zu zähmen.
Darüber hinaus hat Polen vom Zugang zu umfassender EU-Finanzierung profitiert: In den letzten zehn Jahren flossen über 92 Mrd. Euro in die Wirtschaft des Landes. Auch die Kapitalflüsse des privaten Sektors waren in Zentral- und Osteuropa aufgrund attraktiver Konditionen für ausländische Direktinvestitionen deutlich höher. Viele davon gingen in langfristige Projekte und führten zu Vorteilen wie Wissenstransfer und der Einführung international bewährter Praktiken.
Investitionen in Russland werden verschoben
Die Herstellung einer solchen Normalität in der Ukraine könnte enorme Transformationskräfte freisetzen. Aber wie wir alle wissen, ist dieses Ziel momentan ernsthaft gefährdet. Und der Preis für die Aufgabe dieses Ziels könnte hoch sein – nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Länder Mittel- und Osteuropas.
Zunächst einmal führen die Sanktionen gegen die strauchelnde russische Wirtschaft dazu, dass die wiederbelebten Handelsbeziehungen für diese Länder zu einem Unsicherheitsfaktor werden. Bereits jetzt berichten Unternehmen, die auf dem russischen Markt aktiv sind, über Finanzierungsprobleme. Grenzüberschreitende Investitionen werden verschoben.
Die Auswirkungen gehen über kurzfristige Investitionen und Handelsbeziehungen hinaus. Teure Flickschusterei zur Verbesserung der Energieversorgungssicherheit verdrängen in Zentral- und Osteuropa andere wichtige Prioritäten wie langfristige Investitionen in weiterführende Ausbildung und Forschung sowie die dringend benötigte Reform der maroden Gesundheitssysteme. Und da es die Länder in der Region und darüber hinaus für notwendig erachten, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen, löst sich die „Friedensdividende“ auf, die nach 1989 zu größerer fiskaler Handlungsfreiheit beigetragen hatte.
Während die Politiker Europas über ihre nächsten Schritte grübeln und Reaktionen erwägen, sollten die Ukrainer genau prüfen, wie viel sie durch wirtschaftliche und institutionelle Reformen auf dem Weg hin zu europäischer Normalität gewinnen könnten. Gleichzeitig verdienen die Länder Zentral- und Osteuropas die Unterstützung der EU bei ihren Bemühungen zur Reduzierung ihrer Schwachstellen.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
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