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Flüchtlinge Europas Flüchtlingsdeal mit der Türkei im Faktencheck

Ein Junge läuft mit einer türkischen Flagge durch ein Flüchtlingslager: Die Türkei hat mehr als 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen
Ein Junge läuft mit einer türkischen Flagge durch ein Flüchtlingslager: Die Türkei hat mehr als 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen
© dpa
Seit Jahren hat der türkische Staatspräsident gedroht, nun öffnet Recep Tayyip Erdogan Flüchtlingen die Tore zur EU. Was immer seine wahren Motive sind, finanziell braucht die EU sich keine Vorhaltungen machen zu lassen: Sie hat den Deal nicht verletzt

Vereinfacht gesagt hatte man sich darauf verständigt, dass die Türkei syrische Bürgerkriegsflüchtlinge im Land hält, damit sie nicht nach Europa gelangen. Für dieses Migrationsmanagement sagte die EU Ankara im Gegenzug Unterstützung zu: neben Handels- und Visa-Erleichterungen vor allem Geld. 2016 wurde ein Topf namens „Flüchtlingsfazilität“ geschaffen, aus dem in zwei Tranchen jeweils 3 Mrd. Euro ausgeschüttet werden sollten.

Ein Teil der türkischen Vorwürfe zielt nun darauf ab, dass die EU ihre Zusagen nicht eingehalten habe. Am deutlichsten fasste es Außenminister Mevlüt Cavusoglu vor der Visite von Kanzlerin Angela Merkel im Januar zusammen: Ende 2016 seien die ersten 3 Mrd. Euro zu zahlen gewesen, Ende 2018 der Rest. „Jetzt haben wir 2020, und wir haben noch immer nicht die ersten 3 Mrd. Euro vollständig erhalten.“

Richtig ist, dass noch nicht alles ausgezahlt wurde. Die genannten Fristen sind so aber nicht dokumentiert. Die simple Antwort lautet, Ankara hatte andere Erwartungen, was häufig einen Beziehungsstreit erklärt. Die Türkei hatte sich mehr Cash auf die Hand erhofft. Aber von den 6 Mrd. Euro wurde nur 1 Milliarde an Ministerien angewiesen: für Migrationsmanagement, Schulbildung und ärztliche Versorgung von Flüchtlingen. Die komplexere Antwort führt zu den Haushaltsregeln der EU und auch zu Hinweisen, wonach die Türkei selbst nicht unschuldig daran ist, dass Gelder zum Teil nicht zügiger geflossen sind.

Erstes Paket 2016/17: Auftrag erfüllt

Vom ersten Zweijahrespaket des Flüchtlingsdeals waren Ende 2019 rund 2,5 Mrd. Euro ausgezahlt. Bei den fehlenden 500 Mio. Euro handelt es sich um restliche Barmittel. Denn vertraglich waren alle zugesagten Summen bis zum Ende des Zeitraums 2016/17 gebunden: auf der einen Seite vor allem für Aufträge an große UN-Organisationen wie das Welternährungsprogramm, das Flüchtlings- und das Kinderhilfswerk sowie rund 20 weitere Hilfsorganisationen, die sich um eine Grundversorgung mit humanitärer Hilfe bemühen – Lebensmittel, Schutz und Unterkunft, Zugang zu Ärzten, ein bisschen Bildung.

Diese Mission im Gegenwert von 1,6 Mrd. Euro wurde vom Europäischen Rechnungshof als erfüllt und gut geheißen. „Im Rahmen der Fazilität wurde den wichtigsten Bedürfnissen der Flüchtlinge angemessen Rechnung getragen.“ So erhalten rund 1,7 Millionen Geflüchtete über Geldkarten oder Gutscheine so etwas wie Sozialhilfe, die in Zusammenarbeit mit den türkischen Behörden und dem Türkischen Halbmond verwaltet wird. Sie hilft Familien, beispielsweise Winterbedarf wie Kohle, Holz, Heizöl und Winterkleidung zu kaufen.

Die Prüfer kritisierten jedoch das zweite Handlungsfeld des Deals: die langfristiger als Nothilfe angelegte Entwicklungshilfe. Mit diesem Gedl sollten beispielsweise Schulen gebaut oder ein Beitrag zur Existenzsicherung jener geleistet werden, die absehbar nicht in ihre Heimatregion zurückkehren können. Die „Bedürfnisse in den Bereichen kommunale Infrastruktur und sozioökonomische Unterstützung“ wurden vernachlässigt, monierte der Rechnungshof Ende 2018.

Verzug bei der Eingliederung

Es hakte also genau da, wo es um die Eingliederung von heute 3,6 Millionen Flüchtlinge in aufnehmende Gemeinden geht. Denn laut UNHCR leben 98 Prozent der Flüchtlinge nicht in Lagern, sondern in anderen Unterkünften. Um sie am wirtschaftlichen und sozialen Leben zu beteiligen, so der EU-Jargon, sollen Projekte Geflüchtete in einfache Jobs oder Berufsausbildung vermitteln oder Kommunen dabei unterstützen, Konfliktpotenzial zwischen Einheimischen und Geflüchteten zu entschärfen. Tatsächlich dreht sich die Stimmung in der Bevölkerung seit einiger Zeit gegen die anfangs als „Gäste“ Willkommenen.

Infografik: Türkei öffnet die Grenze nach Griechenland | Statista

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So kam es etwa bei Projekten zur Spracherziehung, Handwerkstraining oder Beschäftigung (Cash-for-Work) zu Verzögerungen. Laut Rechnungshof sahen türkische Behörden nicht den sozialen und wirtschaftlichen Handlungsbedarf. Unter 18 Partnern, die für die Umsetzung engagiert sind, befinden sich auch Entwicklungsbanken, deren Kreditkomponenten die Türkei ablehnte. Die Entwicklungsbanken stellten Vorhaben der Wasser-, Abwasserwirtschaft und Abfallentsorgung ein, weil Kommunen keine angemessenen Projekte vorschlugen. Erst Ende 2017 wurden die Mittel dem Bildungssektor zugeschlagen. Das womöglich ein Grund, warum die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) beim Bau und Betrieb von Schulen in Verzug scheint.

Zweite Tranche über 3 Mrd. Euro verplant

Das Muster setzt sich im zweiten für 2018/19 geschnürten Paket fort. Verplant sind 1 Mrd. Euro für humanitäre Hilfe und knapp 2 Mrd. Euro Strukturhilfen – für mehr Schulen, Arbeitschancen, Krankenhäuser und sogar ein städtisches Wasserwirtschaftsprojekt. Bislang ist die Nothilfe zu mehr als der Hälfte geflossen, die Entwicklungshilfe nur zu einem Bruchteil. Was nicht heißt, dass die EU untätig blieb. Alle Mittel sind vertraglich vergeben, nur fließt eben ein Teil am Anfang und ein anderer am Ende der Aufträge.

Der neue Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, soll Ankara inzwischen zugesagt haben, den Stau bis Jahresende aufzulösen. „Diese Fazilität war bei der Unterstützung der Geflüchteten in der Türkei sehr hilfreich“, zitierte ihn das „Wall Street Journal“ in einem Tweet, „und sie wird sicherlich nicht am Ende des Jahres schließen.“ Bisher war eine Auszahlung der restlichen Mittel bis 2025 vorgesehen.

„Keine Seite hat Interesse daran, den Flüchtlingsdeal aufzukündigen“, sagt Sinem Adar vom Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Die Türkei braucht Hilfe bei der Eingliederung von 3,6 Millionen Geflüchteten, von denen die Mehrheit erst einmal bleiben wird", sagt die Wissenschaftlerin. „Wir sprechen hier über rund fünf Prozent der Bevölkerung.“

Sollte es ein neues Paket zu einem höheren Preis geben, wird eine Sache aber sicher nicht einfacher. Ein Teil der Flüchtlingsfazilität ging bislang vom Konto der EU-Vorbeitrittshilfen an die Türkei ab. Da Ankara sich zuletzt eher von der EU entfernt als ihr angenähert hat, wurden diese aber für 2020 radikal zusammengestrichen: Es bleiben fast nur 150 Mio. Euro – für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

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