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Kartellrecht EU will Fusionen stärker kontrollieren – und erzürnt damit die USA

US-Präsident Joe Biden, beziehungsweise die U.S. Chamber of Commerce warnt vor „großer Unsicherheit“ durch die beschlossene „Rekalibrierung“ des Artikel 22 in der EU-Fusionskontrollverordnung
US-Präsident Joe Biden, beziehungsweise die U.S. Chamber of Commerce warnt vor „großer Unsicherheit“ durch die beschlossene „Rekalibrierung“ des Artikel 22 in der EU-Fusionskontrollverordnung
© IMAGO/ZUMA Wire
Der transatlantische Streit über den Inflation Reduction Act ist noch nicht gelöst, da bahnt sich bereits ein weiterer Konflikt an: In den USA wächst der Unmut über die Entscheidung der EU-Kommission, sich mehr Spielraum bei der Prüfung geplanter Unternehmensfusionen zu geben

In den USA, aber auch in der hiesigen Wirtschaft nimmt die Kritik zu an der Entscheidung der EU-Kommission, ihre Befugnisse bei der Fusionskontrolle auszuweiten. Die U.S. Chamber of Commerce und der BDI werfen den Brüsseler Wettbewerbshütern in einem neuen Positionspapier vor, durch die geänderte Praxis für erhebliche Unsicherheiten bei geplanten Übernahmen zu sorgen. Im US-Kongress warnten mehrere Abgeordnete aus beiden politischen Lagern bereits per Brief vor einem „Schaden für die US-EU-Handelsbeziehungen“ und forderten Wirtschaftsministerin Gina Raimondo auf, in Brüssel zu intervenieren.

Dieser Artikel liegt Capital.de im Zuge einer Kooperation mit dem Europe.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Europe.Table am 23. Dezember 2022.

Stein des Anstoßes ist die Entscheidung der Kommission, dem US-Medizintechnikhersteller Illumina die Übernahme von Grail zu untersagen, einem jungen Unternehmen aus Kalifornien mit einem vielversprechenden Früherkennungstest für Krebserkrankungen.Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager begründete den Schritt im September damit, die Konkurrenten von Grail seien auf die Maschinen von Illumina angewiesen. Mit der Übernahme habe Illumina aber einen Anreiz, die Rivalen vom Zugang zu seiner Technologie abzuschneiden. Die Firmen legten dagegen Widerspruch ein, der Fall liegt nun in erster Instanz beim EU-Gericht in Luxemburg.

Nicht zuständig, trotzdem zuständig

Die Entscheidung findet große Beachtung, weil die Kommission dabei erstmals ihre neue Praxis in der Fusionskontrolle anwandte: Sie hatte die französische Wettbewerbsaufsicht ermuntert, den Fall nach Brüssel zu verweisen, obwohl Grail weder in Frankreich noch in der EU die Umsatzschwellen erreichte, ab der die Behörden eine Fusion prüfen.

Die Kommission stützte sich dabei auf eine von ihr selbst zuvor beschlossene „Rekalibrierung“ des Artikel 22 in der EU-Fusionskontrollverordnung. Demnach will sie die nationalen Kartellbehörden in bestimmten Fällen dazu bewegen, eine Übernahme zu verweisen, auch wenn die nationalen Behörden wegen Unterschreitung der Aufgriffsschwellen eigentlich nicht zuständig sind.

Die Kommission will so einschreiten können, wenn Unternehmen Start-ups mit vielversprechender Technologie aufkaufen, die noch wenig Umsatz machen. Gegen Killerakquisitionen etwa in der Tech-Branche hatten die Wettbewerbshüter in der Vergangenheit wenig Handhabe. Im Digital Markets Act haben die EU-Gesetzgeber daher festgeschrieben, dass als Gatekeeper eingestufte Digitalkonzerne auch Übernahmen unterhalb der Meldeschwellen notifizieren müssen.

Die Kommission will aber auch einschreiten können, wenn es nicht um die Digitalriesen geht. Dafür beruft sie sich auf den Artikel 22. Das EU-Gericht bestätigte die neue Praxis im Juli in erster Instanz. Viele Experten habe es aber „überrascht, dass das EU-Gericht die etwas anmaßende neue Praxis der Kommission abgesegnet hat“, sagt Rupprecht Podszun, Kartellrechtsprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Das Bundeskartellamt wendet die neue Praxis wegen der Bedenken bislang nicht an. Das letzte Wort hat nun der Europäische Gerichtshof (EuGH).

Industrie warnt vor Verunsicherung von Investoren

Die U.S. Chamber of Commerce und der BDI warnen vor den Konsequenzen: „Die dramatisch erweiterte Anwendung der Artikel 22 verursacht große Unsicherheiten“ für Unternehmen, die ein Zusammengehen planten. Die Unternehmen sähen sich womöglich gezwungen, eine Fusion in allen 27 Mitgliedstaaten zu notifizieren, statt wie bisher nur bei einer zuständigen Behörde. Auch gebe es keine klaren Fristen mehr für die Verfahren.

Die Kommission könne überdies Fusionen verbieten, die zuvor außerhalb ihrer Zuständigkeit lagen – auch solche mit unzureichendem Bezug zur EU. Auch die Kongressabgeordneten kritisieren, die Grail-Entscheidung der Kommission gehe zulasten von Innovationen in den USA, dabei sei das Unternehmen überhaupt nicht präsent in Europa. Unternehmen und Investoren auf beiden Seiten des Atlantiks seien „zutiefst besorgt“, argumentiert John Frank, Senior Vice President von Illumina. „Wir alle haben die Rechtssicherheit verloren, die das Markenzeichen der EU-Fusionskontrollverordnung war.“

Kommission widerspricht der Kritik

Die Kommission widerspricht: Die Praxis sei in der Fusionskontrollverordnung bereits seit deren Verabschiedung im Jahr 1989 vorgesehen, sagt eine Sprecherin. Mechanismen zur Erfassung von Fusionen, die unter den obligatorischen Anmeldeschwellen liegen, aber potenziell wettbewerbsschädlich sind, existierten überdies auch in den USA oder dem Vereinigten Königreich. Die verwiesenen Fälle müssten weiterhin die Kriterien erfüllen, dass sie den Wettbewerb in dem jeweiligen Mitgliedstaat und den grenzüberschreitenden Handel erheblich beeinträchtigen.

Die Kommission habe zudem „klargemacht, dass sie den Artikel nicht als 'Catch-All' nutzen will“, so die Sprecherin. Vielmehr erhalte die Kommission die Flexibilität, ohne allgemeine Anmeldepflichten Zusammenschlüsse zu prüfen, die dies verdienten. Angesichts der Kritik veröffentlichte die Behörde kürzlich zudem noch einige Klarstellungen.

Experten fordern neue gesetzliche Grundlage

Auch Experte Podszun sieht aber wachsende Rechtsunsicherheit – fusionswillige Unternehmen müssten befürchten, dass die Kommission einen Fall unerwartet prüft. „Die neue Auslegung der Kommission bedeutet eine Abkehr von einer langjährigen Praxis“, sagt Podszun. „Es wäre sauberer, hierfür in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Fusionskontrollverordnung zu ändern.“

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Das aber wolle die Kommission unbedingt vermeiden, sagt Podszun: „Sie befürchtet nicht zu Unrecht, dass die Mitgliedstaaten die Gelegenheit nutzen würden, um industriepolitisch motivierte Änderungen zu verlangen.“

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