Zu Beginn der Eurokrise vor über drei Jahren kam dieser Satz von Helmut Kohl aus dem Geschichtsbuch zurück: Europa sei eine Frage von Krieg und Frieden. Die meisten jüngeren Europäer konnten mit der historischen Überhöhung wohl genauso wenig anfangen wie ich. Die Mahnung, dass die „bösen Geister der Vergangenheit keineswegs gebannt“ seien, klang wie eine dieser staatsmännischen Reden zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, in die man höchstens aus Versehen reinzappt. Die Vorstellung, dass eine EU-Regierung ihre Kavallerie in Marsch setzen könnte, hatte mit der gefühlten Lebenswirklichkeit der meisten EU-Bürger wenig zu tun. Europa, das war der Schulaustausch in Frankreich, die Taverne um die Ecke, der Urlaub in Italien.
Aber Kohl hatte doch Recht. Allerdings auf ganz andere Weise, als von ihm intendiert. Zur größten Gefahr für den Frieden in Europa entwickelt sich nicht das Auseinanderbrechen des Euro, sondern das erzwungene Zusammenleben. Das europäische Drehbuch ähnelt inzwischen einem dieser Kinofilme, die damit beginnen, dass gutgelaunte Menschen zur fröhlichen Landpartie anreisen. Doch die scheinbare Harmonie überdauert das gemeinsame Wochenende nicht: Bald brechen sich alte Animositäten, Empfindlichkeiten und Verletzungen Bahn. Wenn’s gut läuft, stoppt die Eskalation bei Tränen, Beschimpfungen und Schreien. Wenn’s schlecht läuft, fließt Blut. Aber so gut wie immer ist am Ende des Films in der Gruppe nichts mehr so wie es war: (Vermeintliche) Freundschaften und Beziehungen sind zerbrochen. Europa ist an dem Punkt des Plots angelangt, wo die herzlichen Umarmungen der Begrüßung dem gegenseitigen Belauern und Beschimpfen gewichen sind.
Die Frage ist derzeit nicht mehr, ob die EU ein Bundesstaat oder „nur“ ein Staatenbund sein will: Die Menschen in den 27 EU-Staaten zweifeln, ob sie überhaupt etwas verbindet. Der berühmte „acquis communautaire“ ist zusammengeschrumpft auf die gemeinsame Angst vor der Trennung und ihren unabsehbaren Konsequenzen. In diesem Sinne wird auch von den deutschen Euro-Befürwortern argumentiert: Die zu erwartende Aufwertung der neuen D-Mark würde die Exportchancen der deutschen Wirtschaft schmälern. Kein Wunder, dass unsere Nachbarn heftig am Altruismus der Deutschen zweifeln.
Die EU entpuppt sich als Schönwetterveranstaltung. Eine Studie des Pew-Instituts hat gerade nachvollzogen, wie rasant und dramatisch die Zustimmung zur EU schrumpft. Die Menschen in den Schuldnerländern sind davon überzeugt, der deutschen Götze der Haushaltsdisziplin oder, schlimmer, deutscher Großmannssucht geopfert zu werden. Die Deutschen fühlen sich wie der Onkel, der die Kaution für seinen straffälligen Neffen hinblättert und sich dann von diesem als Spießer beschimpfen lassen muss. Hinter den Vorurteilen und Stereotypen steht ein Fakt: Letztlich geht es allen Beteiligten um ihr nationales Interesse. Wie wenig weit her es mit der selbstlosen europäischen Solidarität ist, haben die Zyprer zu spüren bekommen.
Mit ziemlicher Verzögerung ist inzwischen auch das viel beschworene Gespenst der europafeindlichen Partei auf die Bühne getreten: Nur dumm, dass dieses Gespenst den Wählern keinen Schrecken einjagt. Die griechische Syriza konnte man noch gut als verantwortungslose Populisten verdammen. Die italienische Bewegung des Komikers Grillo lässt sich vielleicht noch als Zeitgeisterscheinung abtun. Aber spätestens mit der AfD ist es ernst geworden: Die charismafreien Ökonomen lassen sich nicht in die Ecke der Ewiggestrigen und Abgedrehten stellen. Sie sind, wenn auch nur beim Eurothema, das was ihr Name postuliert: eine politische Alternative.
Nicht nur in Deutschland, überall in Europa wird zunehmend eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgemacht: Was bringt mir der Euro? Was bringt mir Europa?
In der rein ökonomischen Betrachtung haben die Eurogegner mindestens so gute Argumente wie die Befürworter. Und je länger die Krise dauert, desto schwächer wird das Friedensargument von Helmut Kohl. Europa droht der Selbstmord aus Angst vor dem Tod.