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Kommentar Eine Auszeit ist Großbritanniens beste Brexit-Option

Die britische Premierministerin Theresa May
Die britische Premierministerin Theresa May
© dpa
Jedem muss klar sein, dass Großbritannien nicht bereit ist für den Brexit. Wer wie die Regierung in London etwas anderes behauptet, leidet unter Wahnvorstellungen. Philip Stevens plädiert für eine Auszeit - zum Nachdenken

Unterschätzt uns nicht. Großbritannien kommt auch alleine klar. Wir haben den Krieg gewonnen. Winston Churchill! Die Luftschlacht um England! Dünkirchen! Jetzt gebt uns einen maßgeschneiderten Brexit-Deal, oder wir erschießen uns selbst. Ha! Wie wollt Ihr das verkraften, wenn es niemanden mehr gibt, der die teuren deutschen Autos und die Flaschen mit dem sprudelnden italienischen Wein kauft? Nehmt dies! Es sind noch sechs Monate bis zum „B-Day“ und das ist alles, was die britische Regierung im Endspiel aufzubieten hat.

Auf dem kommenden Parteitag der Konservativen wird es mehr von diesem hilflosen Hurrapatriotismus geben. Für die englischen Nationalisten unter den Tories ist der Brexit der Versuch, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Man muss sich nur Boris Johnson anschauen, den ehemaligen Außenminister. In seinem verzweifelten Streben, Theresa May als Premierministerin abzulösen, ist Johnson tatsächlich zu der Überzeugung gelangt, dass er Churchill ist. Niemand würde es wundern, wenn er auf dem Parteitag mit Hut und dicker Zigarre aufträte.

Die Tories sind aber nicht die einzigen mit Wahnvorstellungen. Jeremy Corbyns Labour-Party verfolgt eine von Zynismus durchdrungene Brexit-Politik. Die Partei will jeden von der Regierung ausgehandelten Deal ablehnen, sie weigert sich aber, eine glaubwürdige Alternative anzubieten. Sie will ein zweites Referendum unterstützen – oder auch nicht. In Wahrheit ist Corbyn ebenso ein Gefangener der Nostalgie wie Boris Johnson. Der Labour-Chef, gefangen in der harten linken Ideologie der 1970er-Jahre, betrachtet die EU als eine kapitalistische Verschwörung gegen die Arbeiterklasse. Der proeuropäischen Mehrheit unter den Labour-Abgeordneten fehlt der politische Mut, um ihn herauszufordern.

Die EU ist sich mit ihrer Brexit-Haltung treu geblieben

Die tatsächlichen Optionen für Großbritannien sind die gleichen wie im März 2017, als die Regierung nach Artikel 50 des EU-Vertrags den Austrittsprozess in Gang setzte. Die einzige Überraschung beim Salzburger Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU war, dass sich Premierministerin May überrascht über die Ablehnung ihres „Chequers“-Plans zeigte. Die EU hat immer an ihrem Kurs festgehalten. Wenn Großbritannien sich vom Regelwerk des Binnenmarkts verabschieden will, kann es ein Handelsabkommen haben. Wenn Großbritannien einen freien Zugang will, dann kann es sich für ein Modell nach dem Vorbild des Europäischen Wirtschaftsraums mit allen damit verbundenen Pflichten entscheiden. Das ist nicht kompliziert.

Die EU27 ist bereit, einige besondere Privilegien im Rahmen eines konventionellen Handelsabkommens anzubieten. Nennen wir es „Kanada plus“. Aber der Brexit wird den Block nicht auseinanderbringen. Die vermeintliche Grobheit des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Salzburg war nichts mehr als eine Neuformulierung dieses Grundprinzips.

Auf jeden Fall werden die Gespräche ohne eine Einigung über den so genannten Backstop-Deal für Irland zu nichts führen. Dabei geht es um eine Garantie im Austrittsvertrag, dass unabhängig von den künftigen Handelsbeziehungen keine „harte“ Grenze zwischen Nordirland und der Irischen Republik entsteht. Ein EWR-ähnlicher Deal würde einen Großteil des Problems lösen. „Kanada“ wäre nur möglich, wenn die Grenzfrage geklärt würde.

Ein solches Abkommen ist möglich – kreative Köpfe haben einen „Sonderstatus“ für Nordirland ins Gespräch gebracht, der die Notwendigkeit von Kontrollen an seinen Grenzen praktisch aufheben würde. Aber May wird einen Kompromiss unmöglich machen, wenn sie an dem Glaubenssatz festhält, eine Überwachung des Handels zwischen der Provinz und dem britischen Festland sei ein Angriff auf die Souveränität.

Zwei verschwendete Jahre

Viele von uns haben gedacht, das Ergebnis des Referendums könne nicht schlechter sein. Großbritannien würde einen hohen Preis zahlen, aber mit einer intelligenten Führung und einem Minimum an gutem Willen könnte etwas gerettet werden. Dieser Optimismus hat die Regierung May völlig überschätzt. Die Großspurigkeit der Premierministerin über einen Brexit ohne Deal passt zu dem dünkelhaften Verhaltensmuster. Ein Sprung vom Klippenrand würde für Chaos sorgen. Der Regierung fehlt es an Kapazitäten, die seit langem an die EU delegierten Regulierungs- und Überwachungsaufgaben über Nacht wieder zu übernehmen. Die Wirtschaft würde in einem legalen Niemandsland stranden. Die Grenzen würden nicht überwacht. Großbritannien wäre abhängig vom Goodwill der EU27, um eine ökonomische Lähmung zu vermeiden.

Das größere Risiko besteht darin, dass ein Kompromiss über Nordirland von einer erklärenden Verpflichtung zu einem Handelsabkommen nach kanadischem Vorbild begleitet wird. May ginge damit das Risiko eines ablehnenden Unterhausvotums ein. Das Ergebnis der Abstimmung wäre ungewiss. Sicher ist, dass eine solche Regelung – die faktisch tiefe wirtschaftliche Beziehungen beendet – dem nationalen Interesse Großbritanniens schaden würde.

Die Uhr tickt. Die Premierministerin hat zwei Jahre für einen vergeblichen Versuch verschwendet, die Euroskeptiker unter den Tories zu besänftigen. Das nationale Interesse und die berechtigten Erwartungen der anderen EU-Staaten sind dabei über Bord gegangen. Der Mangel an Führungsqualität führt zu einer absurden Lage: May kann nicht versprechen, dass sie die Unterstützung des britischen Parlaments für welchen Vertrag auch immer erhalten wird.

Großbritannien braucht Zeit zum Nachdenken

Es sollte inzwischen klar sein, dass Großbritannien nicht bereit ist für den Brexit. Wie kann das Land eine halbwegs vernünftige Lösung erwarten, wenn sich seine Politiker untereinander nicht einigen können? Ein Referendum über die Bedingungen eines Abkommens wäre der beste Weg, um diese Frage zu beantworten, aber die Politiker scheinen wenig geneigt zu sein, das Thema an die Bürgerinnen und Bürger zurückzuverweisen.

Die einzige intelligente Option, die bleibt, ist eine Auszeit – eine Zeitspanne, in der Großbritannien im Binnenmarkt und in der Zollunion bleibt, während seine Politiker, die Wirtschaft und hoffentlich auch seine Bürger ihre Optionen überdenken. Man könnte bei den Verhandlungen über Artikel 50 die Uhr anhalten, die geplante Übergangszeit verlängern oder Großbritannien befristet in den EWR aufnehmen mit einer begleitenden Zollregelung.

Mit einer solchen Vereinbarung – für vier oder besser fünf Jahre – wäre Großbritannien schlechter dran als jetzt. Aber das war schon immer die unvermeidliche Realität des Brexit. Bei dem Spiel muss es eigentlich um Schadensbegrenzung gehen. Stattdessen sehen wir eine Lähmung. Zeit für eine Auszeit.

Copyright The Financial Times Limited 2018

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