Den Krebsen sieht man nicht an, aus welchem Teil der Irischen See sie kommen. Hunderte der Tiere liegen zappelnd vor der Sortiermaschine. Sie warten darauf, gewogen und schließlich schockgefrostet zu werden: „Minus 100 Grad Celsius, 14 Minuten“, erklärt Andrew Rooney.
Der Chef des nordirischen Unternehmens Rooney Fish, 45, rasierte Glatze, Seemannsbart, weiß nicht genau, woher diese Krebslieferung stammt. Bisher spielt es für ihn auch keine Rolle, ob die Ware in nordirischen oder irisch-republikanischen Gewässern gefangen wurde. Noch ist die Grenze zwischen beiden Inselteilen offen, noch muss Rooney keine Zölle zahlen, noch kann er seine Lastwagen ohne Grenzkontrollen in den Süden schicken, um den irischen Fischern ihre Scampi, Jakobsmuscheln, Taschenkrebse oder Hummer abzukaufen und sie im nordirischen Fischerstädtchen Kilkeel zu verarbeiten.
Aber spätestens am 29. März 2019 um 23 Uhr Ortszeit wird alles anders. Dann ist Brexit . Die irischen Häfen werden zu einem anderen Wirtschaftsgebiet gehören als Kilkeel, die bisher unsichtbare innerirische Grenze wird zur EU-Außengrenze. Andrew Rooney weiß nicht, ob sein Familienunternehmen dann noch eine Zukunft hat. „Wir importieren 90 Prozent unserer Rohware aus Irland“, sagt er. „Und von unseren Produkten verkaufen wir 60 bis 70 Prozent in die EU.“
Vielen Unternehmern hier macht der EU-Ausstieg Angst. 56 Prozent der Nordiren haben gegen ihn gestimmt. 30.000 Pendler am Tag und mehr als 250.000 Lkw im Monat queren derzeit die innerirische Grenze, von der unklar ist, wie sie nach dem Stichtag aussehen wird.
Der freie Grenzverkehr hat dem traditionell armen, landwirtschaftlich geprägten Nordirland beachtlichen Wohlstand beschert. Der gerät nun in Gefahr. Die Region könnte der große Verlierer des Brexit werden – nicht zuletzt, weil auf der Insel auch immer der wacklige Frieden auf dem Spiel steht.
Das Wirtschaftswunder
Nordirland hat in den 90er-Jahren ein kleines Wirtschaftswunder erlebt. Als der EU-Binnenmarkt die Grenze zur irischen Republik aufweichte, blühte der Landstrich auf. Plötzlich war er kein abgelegener Außenposten mit bürgerkriegsähnlichen Unruhen mehr, sondern Teil einer prosperierenden Insel.
Der Handel mit dem boomenden Süden wuchs, die EU finanzierte Straßen und Bahnverbindungen, die Arbeitslosigkeit im Norden sank von fast 13 auf heute 3,5 Prozent. Nordirlands Öffnung ist eine Erfolgsgeschichte. Auch wenn es in Kilkeel auf den ersten Blick nicht so aussieht.
Es regnet quer an diesem Morgen. Windböen fegen durch Nordirlands größten Fischerhafen. Die meisten Boote hier sehen aus, als seien sie lange nicht benutzt worden. Nur auf einem zeigt sich Leben: Ein paar Seeleute inspizieren Netze.
Kilkeel war einst das Mekka der nordirischen Fischer. Eine Ausstellung im kleinen Stadtmuseum huldigt der guten alten Zeit, als man von einem Hafenende zum anderen quer über die Decks laufen konnte, so dicht drängten sich die Schiffe. An die 120 Boote brachten bis Anfang der 90er-Jahre oft reiche Beute ein: Hering, Kabeljau, Dorsch. Die Fischgründe vor der Küste gaben es her.
Doch nach vielen Jahrzehnten Ausbeutung waren die Bestände überfischt. Zum Schutz der Schwärme legte die EU immer neue Regeln fest: Fangquoten, Schonzeiten, Beschränkung der Tage auf hoher See, Mindestmaschenweiten für Netze. Viele Skipper gaben auf – und geben bis heute Brüssel die Schuld. „Taking back control!“ – bei kaum einer Berufsgruppe kam der Slogan der britischen Leave.EU-Kampagne so gut an.
Export nach Südeuropa
Kilkeel lebt längst nicht mehr vom Hochseefischen. Der mit Abstand größte Arbeitgeber im 8000-Einwohner-Ort ist heute ein Hersteller von Flugzeugsitzen. Vor der Küste werden in Aquakulturen Muscheln und Austern gezüchtet, der Rohstoff für Rooney Fish und andere Fabriken.
Für die verbliebenen Fischer von Kilkeel wird es nach dem EU-Austritt noch komplizierter, ihren Fang an den Mann zu bringen. Denn die Meeresfrüchte, die hier so reichlich gedeihen, sind bei heimischen Konsumenten nicht sehr beliebt. In Südeuropa dafür umso mehr. Bei Rooney Fish kleben bulgarische Arbeiterinnen spanischsprachige Etiketten auf Pakete mit tiefgekühlten Jakobsmuscheln. Eine Scampi-Lieferung geht nach Italien, die Austern sind vor allem in Frankreich gefragt.
Aus dem Ein-Mann-Betrieb, den Rooneys Vater in den 80er-Jahren startete, ist ein mittelständisches Unternehmen mit 65 Mitarbeitern geworden. Ohne den Fall der Grenze wäre das nie möglich gewesen. Das Auslandsgeschäft laufe gut, sagt Rooney, aber die Margen seien klein. „Wenn wir auf Importe aus Irland oder Exporte in die EU nur ein Prozent Zoll zahlen müssten, bekämen wir ein Problem. Mein schärfster Konkurrent sitzt in Irland, er hätte einen enormen Wettbewerbsvorteil.“ Noch bedrohlicher wären Grenzkontrollen. Schon 20 Minuten Wartezeit können hochempfindliche Meeresfrüchte schädigen. „Die EU braucht uns nicht“, sagt Rooney. „Aber wir die EU.“
Grenzgeschäfte
Rooney Fish ist nur eines von weit über 10.000 nord- und südirischen Unternehmen, die grenzüberschreitende Geschäfte machen. Besonders in der Lebensmittelindustrie, Nordirlands wichtigstem Wirtschaftssektor, sind die Verflechtungen groß.
Etwa jedes dritte nordirische Schaf wird in der Republik geschlachtet – und jedes zweite republikanische Hühnchen im Norden. 30 Prozent der nordirischen Milchproduktion werden im Süden zu Sahne, Butter und Käse verarbeitet, umgekehrt lassen irische Marken wie Guinness und Baileys in Belfast abfüllen. Zölle, Handelsschranken, Grenzwartezeiten – all das könnte die Lieferketten zerreißen. Es wäre ein Desaster, vor allem für den Norden. 30 Prozent seiner Exporte gehen in die Republik, insgesamt 56 Prozent in die EU.
„Es wird keine Rückkehr zu den Grenzen der Vergangenheit geben“, hat Theresa May versprochen. Aber eine konkrete Alternative hat sie nicht vorgestellt. Und Michel Barnier, der EU-Chefunterhändler, hat bereits angekündigt, dass ohne ein umfassendes Abkommen zwischen London und Brüssel sämtliche Importe von Tieren und Tierprodukten durch Grenzkontrollen müssten. In einer Umfrage des britischen Industrieverbands erklärten 81 Prozent der nordirischen Unternehmer, ihnen sei unklar, wie May einen guten Deal für ihre Region erreichen könne.
Wenn Declan Fearon die Grenze hinter der Herz-Jesu-Kirche von Jonesborough überquert, besucht er immer seinen guten Freund. Der liegt auf dem katholischen Friedhof, auf irischem Hoheitsgebiet, das gleich hinter dem Friedhofseingang beginnt. Am Grabmal weht die grün-weiß-orange irische Trikolore. Auf dem Stein sind zwei Wächter mit Gewehren in der Hand eingraviert.
Fearons Freund wurde wie ein Held begraben. Keine 20 war er, als er in den 70er-Jahren von britischen Soldaten erschossen wurde. Er gehörte der Untergrundarmee IRA an, die in Nordirland drei Jahrzehnte lang für die Vereinigung mit dem Süden kämpfte, gegen protestantische Unionisten und die britische Armee.
Troubles nannten die Nordiren verharmlosend die bürgerkriegsähnlichen Zustände: Probleme. „Es waren schreckliche Zeiten“, sagt Fearon. Der Unternehmer, 61, leuchtend blaue Augen, buschige Brauen, schlohweißes Haar, hat nicht nur den Freund verloren, sondern auch einen Schwager, der starb, als eine selbst gelegte Bombe hochging.
Alte Wunden
Bandit Country, wie das Grenzgebiet hieß, war eine Hochsicherheitszone. Hubschrauber kreisten Tag und Nacht, die Briten errichteten Wachtürme wie an der innerdeutschen Grenze. Nur an 18 Übergängen war der Grenzübertritt gestattet, davor stauten sich Autos, Busse, Lastwagen. Gute Geschäfte machten nur Schmuggler, die Arbeitslosenrate betrug fast 30 Prozent.
„Wir lebten am Ende der Welt“, sagt Fearon. Wenn er nach Dundalk wollte, die nächste Stadt auf irischer Seite, brauchte er vier bis fünf Stunden. Heute ist er in 20 Minuten da, und er legt den Weg ständig zurück. Fearon verkauft Küchen, fast die Hälfte seiner Abnehmer leben im Süden. „Seit der Öffnung“, sagt er, „sind wir mittendrin im Markt.“
Das Karfreitagsabkommen von 1998 war der Wendepunkt. Damals einigten sich Republikaner und Unionisten, Irland und Großbritannien auf ein Ende der Gewalt. Doch im Januar 2017 ist Nordirlands Regierung zerbrochen – am Streit zwischen der protestantischen Democratic Unionist Party und der katholischen Sinn Féin. Seit fast anderthalb Jahren gibt es keine arbeitsfähige Regionalregierung. Ausgerechnet jetzt, wo die alten Gräben wieder aufreißen könnten, haben die Nordiren keine politische Vertretung.
Erbe des Karfreitagsabkommens
In den dunklen Jahren hätte sich der Protestant Michael Waddell nie nach Crossmaglen gewagt. Der nordirische Ort, auf drei Seiten von Irland umschlossen, war berüchtigt für seine Heckenschützen. Seit dem Karfreitagsabkommen aber kann Waddell bedenkenlos hierherpendeln. Der 60-Jährige leitet die Bäckerei McNamee’s, den größten Arbeitgeber des Ortes. Seine Entscheidung, in den damals noch übersichtlichen Familienbetrieb einzusteigen, hat er nie bereut. „Ich bin nie wegen meiner Religion angefeindet worden. Und hier konnte ich etwas bewegen.“
In der Fabrik duftet es nach frischem Brot. Waddells Leute bereiten gerade eine Charge vor, bis zu 20.000 Laibe produzieren sie am Tag. Ein Arbeiter wirft Teigklumpen in die Formen, ein anderer streicht sie glatt. Die beiden stammen aus Kroatien und Litauen. „Es gibt so gut wie keine britischen Bäcker mehr“, sagt Waddell.
Der Ofen kommt aus Deutschland. Das Mehl aus Großbritannien, die Margarine aus Belgien, der Zucker aus Frankreich, Kirschen und Rosinen aus Griechenland. Fast zwei Drittel der Produktion gehen nach Irland, wo McNamee’s große Kunden und zwei Filialen hat. „Wir Unternehmer haben hier etwas aufgebaut nach dem Karfreitagsabkommen“, sagt Waddell. „Aber die Politiker lassen uns völlig im Dunkeln, was nach dem Brexit geschieht.“
Waddell wollte eigentlich die Fabrik vergrößern, das Fundament war schon gegossen. Aber nach dem Referendum stoppte er den Bau. „Falls Zölle oder Kontrollen kommen, ist es vielleicht besser, eine Fabrik in Irland zu bauen.“ Jedes dritte nordirische Unternehmen hat Investitionen auf Eis gelegt oder abgeblasen.
Waddell hält auch den Frieden für fragil. Der Religionskonflikt auf der Insel sei mehr als drei Jahrhunderte alt – 20 Jahre Ruhe seien nichts dagegen. Ein einziger Anschlag könne die Spirale wieder in Gang setzen. Der Konflikt ist noch immer sichtbar im nordirischen Alltag. In Crossmaglen huldigt ein überlebensgroßes Plakat der IRA, in Belfast verherrlichen Wandmalereien Kämpfer der Ulster Volunteer Force. Meterhohe Mauern, sogenannte peace walls, trennen noch immer protestantische und katholische Wohnviertel. Vor allem die Unionisten wollen das so.
Angst vor Wiedervereinigung
Arlene Foster, die Chefin der Democratic Unionist Party (DUP), hat den Brexit propagiert – und lehnt kategorisch einen Sonderstatus ab, der es Nordirland erlauben würde, im Binnenmarkt und der Zollunion zu verbleiben. Denn dann würde die Wirtschaftsaußengrenze der EU quer durchs Meer verlaufen, zwischen den Inseln Irland und Großbritannien. Die nordirischen Unionisten fürchten, das könnte Befürwortern einer irischen Wiedervereinigung Auftrieb geben. Und weil May auf die Stimmen der DUP angewiesen ist, wird die harte innerirische Grenze, die eigentlich niemand will, immer wahrscheinlicher.
„Wenn sie kommt, werden wir eine unserer Fabriken nach Irland verlegen müssen“, sagt John McCann. Der 73-Jährige ist Chef von Willowbrook Foods in Killinchy. Sein Unternehmen stellt verpackte Fertigsalate her, 300 Mitarbeiter erwirtschaften 40 Mio. Pfund Umsatz.
Von Oktober bis Mai, wenn im Norden nichts wächst, muss Willowbrook Rohware aus Südeuropa importieren. Und drei Viertel seiner Arbeiter sind EU-Ausländer: Polen, Balten, Rumänen, Bulgaren. Doch seit dem Referendum sind Bewerbungen von Osteuropäern drastisch zurückgegangen. Viele fürchten offenbar, ausgewiesen oder diskriminiert zu werden.
Ersatz findet McCann nicht leicht. Nordiren wollen nicht im Schichtbetrieb Gemüse schneiden. Für sie gibt es genügend bessere Arbeitsplätze in Nordirland. Noch.