Capital: Nach den jüngsten Äußerungen aus Brüssel und London: Wie gravierend wären die wirtschaftlichen Folgen eines ungeordneten, harten Brexits?
Stefan Bielmeier: Ein ungeordneter, harter Brexit ist sicherlich als das „worst case“ Szenario zu bezeichnen. Die wirtschaftlichen Folgen, vor allem für Großbritannien, wären gravierend. Der IWF schätzt die Wachstumsverluste für die britische Wirtschaft im Falle eines harten Brexits auf vier Prozentpunkte in fünf Jahren. Das Gros dieser Abstriche würden wir wohl in den ersten ein bis zwei Jahren sehen. Diese Erschütterung wäre auch im Rest Europas deutlich zu spüren. Vor allem die irische Wirtschaft, die sehr enge Verbindungen mit dem Nachbarland hat, würde wohl ähnlich hart getroffen wie Großbritannien selbst. In der Eurozone würde der Konjunkturaufschwung deutlich gedämpft.
Aber haben die Finanzmärkte den Brexit – in allen Varianten – nicht längst eingepreist?
In den vergangenen Monaten hat die Sorge über die Auswirkungen des Brexits zwar deutlich zugenommen, der Finanzmarkt geht jedoch mehrheitlich weiterhin von einem glimpflichen Ausgang aus. Insbesondere ein harter Schnitt mit Brüssel oder sogar ein sogenannter „no-deal“ Brexit - also ein ungeordneter Austritt aus der EU - sind unserer Meinung nach derzeit nicht eingepreist. Sollte dieser Fall dennoch eintreten, wäre dies mit gravierenden Konsequenzen für den britischen Finanzmarkt verbunden: Das Pfund würde nochmals deutlich abwerten, die Renditen britischer Staatsanleihen steigen und die Aktienmärkte einbrechen. In einer ersten Reaktion wäre sicherlich auch mit gewissen Ansteckungseffekten außerhalb Großbritanniens zu rechen. Den größten Schaden würde das Land jedoch unweigerlich selber nehmen.
Was wären denn die ganz konkreten Folgen für die deutsche Wirtschaft?
Großbritannien ist einer der wichtigsten Handelspartner Deutschlands, die Briten rangieren mit einem bilateralen Außenhandelsvolumen von rund 120 Mrd. Euro pro Jahr - also Exporte plus Importe - auf Rang fünf der wichtigsten Partnerländer. Dabei erwirtschaftet Deutschland gegenüber dem Vereinigten Königreich einen der höchsten Handelsüberschüsse überhaupt, im vergangenen Jahr waren das rund 47 Mrd. Euro. Das entspricht 1,4 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung. Diese Zahlen machen deutlich, dass auch Deutschland ein vitales Interesse an einem geordneten Austrittsverfahren und weiterhin engen Wirtschaftsbeziehungen hat. Die deutsche Wirtschaft würde durch einen harten Brexit wohl nicht in eine Krise gestürzt, aber erheblich getroffen würde sie zweifellos.
Und was wären die Folgen für die britische Wirtschaft? Auf der Insel konnte man sich ja nun schon einige Zeit auf alle Szenarien vorbereiten...
Die britische Wirtschaft würde in die Rezession rutschen. Der Außenhandel würde in den Wochen nach dem Austritt praktisch zum Stillstand kommen, die Inflation durch die Pfund-Abwertung in die Höhe schießen und den Konsum abwürgen. Die Arbeitslosigkeit wird dann ziemlich schnell steigen. Dann leiden auch der Häusermarkt, die Investitionen… Es droht eine Abwärtsspirale. Hinzu kommen die Ausweitung des ohnehin schon hohen Leistungsbilanzdefizits und der deutliche Renditeanstieg britischer Staatsanleihen mit potenziell schwerwiegenden Folgen für den Staatshaushalt. Dies sind auch Gefahren für die Finanzstabilität. Von der starken Abwertung könnten aber nach einiger Zeit stabilisierende Effekte auf die Konjunktur ausgehen.
Bei all diesen Aussichten - wie sollte die Politik, insbesondere die EU in den weiteren Verhandlungen vorgehen? Sollte ein harter Brexit unbedingt verhindert werden?
Sicherlich nicht um jeden Preis. Die Integrität der EU muss gewahrt werden und es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass die Briten in Zukunft einen „EU-light“ Status bekommen. Die EU hat sich dies offensichtlich zu Herzen genommen und sich in den bisherigen Verhandlungen wenig kompromissbereit gegeben. Darüber sollte man allerdings nicht vergessen, dass auch die EU kein Interesse an einem harten Brexit - oder, noch schlimmer, einem ungeordneten Brexit hat. Nicht nur aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus, sondern auch aus politischen Beweggründen. So wäre eine „harte“ Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland, die den ohnehin labilen Frieden in der Region erheblich gefährden könnte, in einem solchen Brexit-Szenario fast unausweichlich. Dies soll aber auf jeden Fall vermieden werden – zumindest darüber herrscht zwischen Brüssel und London Einigkeit. So gilt es in den laufenden Verhandlungen einen Drahtseilakt zu vollziehen.
Wie sieht dieser Drahtseilakt aus?
Ein harter oder ungeordneter Brexit soll vermieden werden, gleichzeitig muss die EU deutlich signalisieren, dass der Austritt eines Landes mit erheblichen Einbußen verbunden ist. Zu dogmatisch darf die EU aber nicht mehr auftreten, sonst riskiert sie, dass Theresa May ihr Amt an die Hardliner in ihrer Partei verliert und dann gäbe es kaum noch eine Chance für einen Austrittsvertrag. Das scheint sich Michel Barnier zu Herzen genommen zu haben, als er jetzt ankündigte, die EU könne den Briten eine Partnerschaft anbieten, wie es sie bislang mit keinem anderen Drittstaat gibt – das ist neu. Damit stärkt er der britischen Premierministerin den Rücken, die ihrerseits bis zum Parteitag der Tories Ende September kaum Spielraum hat, der EU Zugeständnisse zu machen.
Das Interview wurde im Sommer 2018 geführt. An den wirtschaftlichen Folgen hat sich aber nichts geändert