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Kommentar Die Woche der Wahrheit

US-Präsident Joe Biden setzte in dieser Woche seine Unterschrift unter den 1,9 Billionen Dollar umfassenden "American Rescue Plan"
US-Präsident Joe Biden setzte in dieser Woche seine Unterschrift unter den 1,9 Billionen Dollar umfassenden "American Rescue Plan"
© IMAGO / ZUMA Wire
Die USA zeigen, was eine Bazooka ist: Mit 1,9 Billionen Dollar bekämpfen sie die Corona-Folgen. Es ist ein riskantes Unterfangen – zugleich lässt es aber die Bemühungen hierzulande kümmerlich erscheinen

Wir sollten uns die Ereignisse dieser Woche gut merken – womöglich werden wir in einigen Monaten sagen: Das war die Woche, in der vieles ins Rutschen geraten ist. Ich denke da noch gar nicht so sehr an die Landtagswahlen an diesem Wochenende. Und auch nicht nur an die erschütternde Erkenntnis, dass im Bundestag tatsächlich Abgeordnete sitzen oder saßen, die glaubten, sie könnten sich in einer großen sozialen und wirtschaftlichen Krise am Notstand des Landes bereichern. Gut möglich, dass allein dieses Zusammentreffen von Skandal und Wahlen die kommenden Wochen und Monate bis zur Bundestagswahl im Herbst verändern wird – der Sonntag wird es zeigen.

Ich denke vielmehr an alte Glaubensätze, an Überzeugungen, die wir zuletzt für sehr sicher gehalten haben. Es ging in dieser Woche nämlich auch um die Frage: Wie sehen wir uns in der Pandemie – und wie sehen wir die Welt?

Ein gutes Jahr lang hatte zumindest eine breite Mehrheit der Deutschen das Gefühl, in dieser einmaligen Gesundheitskrise werde das Land recht ordentlich regiert. Ja, es fehlten am Anfang Masken, Schutzanzüge und Geräte. Aber die Zahl der Infektionen und die Zahl der Verstorbenen lagen und liegen immer noch weit unter jenen in vergleichbaren Staaten wie Frankreich, Großbritannien oder den USA. Noch immer kämpfen Unternehmen um ihre Existenz und die Jobs ihrer Mitarbeiter. Doch alles in allem – dank Kurzarbeit und Konjunkturpaket – hat sich die deutsche Wirtschaft bisher sehr gut geschlagen und steht zudem vor einer ordentlichen Erholung. Über die Lage anderswo, in Großbritannien etwa und mehr noch in den USA, konnten wir oft nur den Kopf schütteln.

Dieses Selbstverständnis wird derzeit erschüttert – denn je intensiver man die Nachrichten aus den USA und Großbritannien verfolgt, desto mehr hat man den Eindruck: Vielleicht schlugen wir uns ja nur deshalb so wacker, weil die anderen bis vor kurzem so grotesk weit unter ihrem Niveau agierten.

Klotzen nicht kleckern

Jedenfalls hat diese Woche auch gezeigt, was eine Regierung bewegen kann, die weiß, was sie will. Am Donnerstag setzte US-Präsident Joe Biden nach der Zustimmung im Kongress sein erstes großes Konjunkturpaket in Kraft: 1,9 Billionen Dollar, das entspricht 8,5 Prozent der gesamten amerikanischen Wirtschaftsleistung, wird Biden in den kommenden Wochen unter das Volk bringen, um die US-Wirtschaft wieder anzuwerfen. Einiges davon gleicht nur aus, was den USA so schmerzlich fehlt – ein funktionierender Sozialstaat mit Kurzarbeitergeld, Arbeitslosen- und Krankenversicherung wie ihn Deutschland kennt. Aber rund zwei Drittel der Summe gehen direkt in den Konsum. Dieses Paket ist so groß und beinahe maßlos, dass Biden allein damit Geschichte schreiben wird.

Es ist ein gewaltiges Experiment mit großen Risiken: 1,9 Billionen Dollar, erschaffen aus dem Nichts, neue Schulden, die größtenteils von der US-Notenbank Fed finanziert werden. Wenn das schiefgeht, wird die US-Wirtschaft in diesem Sommer förmlich explodieren, werden die Preise durch die Decke gehen und die Notenbank hektisch die Zinsen anheben müssen, Chaos an den Finanzmärkten inklusive. Eine Minderheit der Ökonomen, darunter allerdings einige mit großen Namen und viel Erfahrung, fürchtet genau dies. Geht das Experiment jedoch gut, und das erwartet die große Mehrheit der Experten, dann legt Biden womöglich die Basis für eine große ökonomische und politische Heilung: ein breiter wirtschaftlicher Aufschwung, der Millionen Amerikaner wieder in Jobs bringt, der die Löhne steigen lässt, der Wohlstand und Zuversicht zurückbringt – und hoffentlich auch Versöhnung in dieses aufgebrachte Land.

Infographic: What's In The $1.9 Trillion Stimulus Package? | Statista

Rund drei Prozentpunkte mehr Wachstum wird das Paket in den USA bringen, insgesamt soll die US-Wirtschaft nun um sechs bis sieben, vielleicht sogar um acht Prozent wachsen. Hinzu kommt, dass die Amerikaner auch noch viel schneller impfen als die EU – auch wenn das zum Teil daran liegt, dass die USA im Gegensatz zu den Europäern grundsätzlich keinen Impfstoff aus dem Land lassen. Bis zum Frühsommer sollen jedenfalls mehr oder weniger alle erwachsenen US-Bürger immunisiert sein. Einer großen Party in der zweiten Jahreshälfte steht dann dort nichts mehr im Wege.

Waren wir nicht gut? Waren die anderen nur schlechter?

So gucken wir, wenn wir in dieser Woche in die USA blicken, immer auch ein bisschen in den Spiegel und fragen uns: Und bei uns? Was um alles in der Welt ist eigentlich schiefgelaufen, dass sich bei uns die Fortschrittsberichte im Kampf gegen die Pandemie jeden Tag so lesen wie der Hafenbericht aus Emden: Ankunft von 5000 Impfdosen aus Großbritannien, Verladung von 2000 Testkits nach Duisburg, außerdem beschlagnahmte der Zoll 4000 FFP2-Masken aus China und 600.000 Euro, die für einen Bundestagsabgeordneten in Berlin bestimmt waren... Es beschleicht einen ein tiefes Unbehagen: Kann es sein, dass wir in der Pandemie gar nicht besonders gut regiert wurden, sondern die anderen einfach besonders schlecht? Und wir hatten nur Glück?

Wirtschaftlich steht Deutschland ja sogar noch am besten da, dank alter Stärken im Export und solider Finanzen. Doch Europa insgesamt strauchelt und hadert auch in dieser Krise, sucht verzweifelt nach Einigkeit, Impfstoff und Geld. Die Wachstumsaussichten für Südeuropa sind schwach, vielleicht sogar schlecht, wenn das Impfen weiter so schleppend läuft und die großen Urlaube auch dieses Jahr ausfallen. Während die USA durchstarten, streiten sich Italiener, Spanier, Deutsche und Brüsseler Beamte um die Details eines im Vergleich zu den USA nicht mal halb so großen Konjunkturprogramms. Wahrscheinlich werden die ersten Gelder ausgezahlt, wenn Biden in vier Jahren sein Amt an Kamala Harris übergibt.

Man stelle sich einmal vor, Deutschland würde etwas Ähnliches wagen wie die USA: 8,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts, das sind knapp 300 Mrd. Euro. Oder wenigstens zwei Drittel davon, 200 Mrd. Euro, gezielt als Schecks für Arbeitslose, Alleinerziehende, Menschen mit geringen und mittleren Einkommen, für Krankenschwestern, Pfleger, Polizisten. Selbst ein Viertel davon wäre schon eine Sensation. Könnte sich Deutschland so etwas leisten? Die Antwort ist eindeutig ja. Will es das auch? Diese Frage haben wir bisher immer mit Nein beantwortet – die berühmte Sehnsucht nach den soliden Finanzen. Doch was ist, wenn Biden Erfolg hat, wenn die Wirtschaft anspringt und nicht aus dem Ruder läuft? Auch diese Frage nach Teilhabe am Wohlstand, nach den Gestaltungsmöglichkeiten einer Regierung, steht seit dieser Woche ganz offen im Raum.

Und es ist ja nicht vorbei: Kaum hatte er sein Paket unterzeichnet, kündigte Biden schon das nächste Programm an. Diesmal sollen es 3 oder 4 Billionen Dollar sein, für neue Straßen, Schienen, Kraftwerke und Stromnetze. Derweil wartet Deutschland an diesem Freitag darauf, ob noch mehr Bundestagsabgeordnete im vergangenen Jahr einen florierenden Maskenhandel betrieben haben.

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