Was im Mittelalter der Mob war, ist heute die Netzgemeinde. Sie steinigt nicht mehr, sie twittert und postet, erbarmungslos, hämisch, feuereifrig. Bei jedem Witz, jedem neuen Spott holen sich Tausende Trolle mit und ohne Klarnamen ihre stündliche Dosis Dopamin ab. Wer kurz innehält und Fragen zu dem Treiben stellt, wird niedergebrüllt, weil er im Postkutschenzeitalter lebt und lieber Faxe verschicken soll.
Die CDU und AKK erleben das gerade, und dabei loten wir neue Grenzen aus. Es stimmt: Die Union hat sich, seit der Junge mit der blauen Tolle namens Rezo zu ihrer Zerstörung aufrief, nur blamiert. Erst wollte sie auf Youtube mit ihrem Jungstar Philipp Amthor antworten, dann lieber doch nicht, dann forderte AKK „Regeln“ und hat seitdem eine Meinungsfreiheitdebatte am Hals. Die Union zeigt sich hilflos, unbeweglich, einfach nur 90er. So weit, so einfach die Diagnose.
Man könnte auch sagen: Die CDU hatte nie eine Chance und hat sie nicht genutzt. Und es wird verdammt schwierig für alle Parteien, sie überhaupt erfolgreich zu nutzen. Dazu einige Gedanken:
Erstens: Irgendwie gibt es da einen Widerspruch. CDU und SPD sollen also endlich lernen, Wahlkampf im Netz zu führen, weil das einfach „up to date“ und die Zukunft ist. Gleichzeitig, suchen viele Demokratien händeringend Wege, die Manipulation, die mit Hilfe von sozialen Plattformen vor Wahlen stattfindet, in den Griff zu bekommen. In den USA ist die „Russland-Affäre“ zur größten innenpolitischen Schlacht der Amtszeit Donald Trumps geworden. Irgendwo zwischen Rezo und den russischen Bot-Armeen müssen wir also doch klären, was nun wirklich cool und was gefährlich ist.
Zweitens: Die SPD hat bei der Europawahl am meisten Geld in den digitalen Wahlkampf gesteckt. Und hat es was gebracht?
Drittens: Rezo hat nach eigener Aussage „mehrere hundert Stunden“ an dem Video gearbeitet. Als die CDU wenige Stunden nach der Veröffentlichung noch nicht mit einem eigenen Video reagiert hatte, war die Schlacht für die Netzgemeinde geschlagen. Es gab bereits montierte „Philipp Amthor“-Parodien anstelle einer realen Entgegnung. Das zeigt doch, dass man in dem Hämestrudel nur verlieren kann. Sollen die Parteien also eigene Youtube-Abteilungen aufbauen, um endlich die Jugend zu erreichen? Das wird vermutlich nur die enthemmte Spottproduktion steigern.
Viertens: Rezo hat stolz über die Fülle an Reaktionen berichtet, die ihn erreicht haben. Das Video hat inzwischen 13 Millionen Views, Hut ab. Rezo hat einen Nerv getroffen. Doch folgendes Gedankenexperiment: Hätte Rezo 55 Minuten lang Fakten gegen Migration und Flüchtlinge zusammengetragen, hätte er vermutlich auch Millionen Klicks und sehr viel Zuspruch bekommen. Hätten wir das auch cool und geil gefunden? Reaktionsmasse und Applaus allein sind also kein Maßstab.
Auf dem Bazar der Meinungsmachenden, darauf muss man sich gewöhnen, mischen nun also auch Youtuber mit. Das ist auch völlig in Ordnung, das ist nicht nur Demokratie, sondern Marktwirtschaft, zumal der Vorwurf, Rezo verfolge kommerzielle Interessen, ziemlich billig ist. Das tun Zeitungen und Zeitschriften auch, und wenn wir damit kein Geld verdienen, sind wir weg vom Fenster.
Die Bewegung, die viele nun feiern, weil die Jugend sich im Netz endlich nicht mehr nur Schminktipps gibt und Videospiele spielt, sollten Parteien kennen- und verstehen lernen, sich aber nicht von ihr treiben lassen. Man sollte ihre Regeln beherrschen, sich ihnen aber nicht unterwerfen. Denn die Willensbildung des Volkes ist nicht die der Netzgemeinde. Die Netzgemeinde ist nicht modern, nicht zukunftsgewandt. Sie ist amorph und archaisch.
Die Zerstörung von Volksparteien hat übrigens noch keinem Land gut getan. Sie hat zur Zersplitterung von Parteiensystemen beigetragen und Populisten an die Macht gebracht, gegen die Rezo so alt aussieht wie die CDU gegen ihn.