Millionen Menschen stempeln. Jeden Morgen, jeden Abend stecken sie ihre Karte in eine Stechuhr oder halten ihren Chip vor ein Lesegerät und messen so ihre Arbeitszeit. Das passiert vor allem dort, wo in Schichten und linear über acht Stunden gearbeitet wird, zum Beispiel in Fabriken oder im öffentlichen Dienst. Vertreter einiger Branchen hielten das lange für altmodisch, teilweise machten sie sich sogar darüber lustig. In vielen Bereichen gilt stattdessen die „Vertrauensarbeitszeit“ – vor allem dort, wo unregelmäßig gearbeitet wird: in Agenturen, in der Wissenschaft oder beim modernen Mittelständler.
Spätestens seit 2019 ist aber klar: Die Vertrauensarbeitszeit hat ihre Grenzen. Die Arbeitgeber müssen nämlich die geleisteten Arbeitsstunden dokumentieren, erklärte damals der Europäische Gerichtshof. Das sogenannte „Stechuhr-Urteil“ gilt heute als historisch. Seitdem hat sich allerdings noch nicht viel getan in Deutschland. Zwar bestätigte das Bundesarbeitsgericht (BAG) Ende 2022 das Urteil. Doch erst jetzt, durch einen Entwurf aus dem Bundesarbeitsministerium, wird klar, wie sich die Bundesregierung die Umsetzung des Urteils vorstellt.
Der Entwurf orientiert sich streng an den Leitlinien, die das BAG gesetzt hatte. Demnach räumt die Bundesregierung den Arbeitgebern ein, die Arbeitszeit auch elektronisch zu erfassen. Papier und Stift sind also nicht notwendig, aber möglich. Zum anderen sollen Tarif- und Betriebsparteien Ausnahmen vereinbaren können – zum Beispiel für Angestellte in der Wissenschaft. Vertrauensarbeitszeit bleibt also weiter möglich – Unternehmen müssen aber die technischen Möglichkeiten schaffen, um die Arbeitszeit zu erfassen.
Tarifpartner können Ausnahmen vereinbaren
Laut Gesetzentwurf müssen Arbeitgeber „Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer“ am jeweiligen Arbeitstag „elektronisch aufzuzeichnen“. Bislang galt das nur für Überstunden und Sonntagsarbeit. Die Beschäftigten könnten ihre Arbeitszeit selbst dokumentieren, dies könne aber auch durch „einen Dritten erfolgen“, zum Beispiel einen Vorgesetzten. Das gelte auch für Beamtinnen und Beamte. Letztlich sei der Arbeitgeber dafür verantwortlich, dass die Arbeitszeit ordnungsgemäß erfasst werde. Arbeitnehmer können die gesammelten Informationen zudem einfordern.
Eine bestimmte Art der elektronischen Aufzeichnung will das Arbeitsministerium nicht vorschreiben. Neben bereits gebräuchlichen Zeiterfassungsgeräten kämen auch andere Formen der elektronischen Aufzeichnung mit Hilfe von elektronischen Anwendungen wie Apps auf einem Mobiltelefon in Betracht, heißt es im Entwurf. Möglich sei auch eine kollektive Arbeitszeiterfassung durch die Nutzung und Auswertung elektronischer Schichtpläne – falls sich daraus Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit ableiten lassen.
Philipp Neddermeyer, Geschäftsführer und Rechtsanwalt im AGA Norddeutscher Unternehmensverband, findet die Optionen zwar grundsätzlich gut – dämpft aber zeitgleich die Hoffnungen. „Allein das Wort ,elektronisch‘ bedeutet nicht, dass es besser oder sogar reibungslos funktioniert. Das müssen gegenwärtig viele Unternehmen schon mit Einführung der der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erfahren“, sagt Neddermeyer gegenüber Capital.
Vertrauensarbeitszeit soll möglich bleiben
Die Möglichkeit von Vertrauensarbeitszeit soll durch die Pflicht zur Arbeitszeitaufzeichnung nicht beeinträchtigt werden, heißt es im Entwurf. Damit gemeint ist ein flexibles Arbeitszeitmodell, bei dem der Arbeitgeber auf die Festlegung von Beginn und Ende der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit verzichtet.
Unter Arbeitgebern erhält der Entwurf ein tendenziell schlechtes Zeugnis. Oliver Zander, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, nannte ihn einen „Gruselkatalog“ an Bürokratie, Widersprüchlichkeiten und Fortschrittsverweigerung.
Philipp Neddermeyer erklärte gegenüber Capital: „Der Gesetzesentwurf zur elektronischen Arbeitszeiterfassung schnürt das bürokratische Korsett für die Unternehmen weiter zu. Es ist aber zu begrüßen, dass der Entwurf einen gewissen Spielraum und Ausnahmen vorsieht, um die Arbeitszeiterfassung nach Unternehmensgröße und Tätigkeitsbereich flexibel zu gestalten. Mit anderen Worten: Es hätte schlimmer kommen können.“
Politiker links der Mitte begrüßen den Entwurf weitestgehend. Linke-Arbeitspolitikerin Susanne Ferschl erklärte, Arbeitszeiterfassung sei ein wirksames Instrument für den Gesundheitsschutz und gegen Lohnraub. Deswegen dürfe es keine Ausnahmen geben.
Die Gewerkschaften wollen den Entwurf noch nicht abschließend bewerten. Auf Nachfrage von Capital verweisen einzelne Organisationen wie IG Metall, NGG und IGBCE auf den Dachverband DGB. Aus Gesprächen hinter vorgehaltener Hand wird deutlich, dass es auf Gewerkschaftsseite noch keine einhellige Meinung zu Heils Vorschlag gibt: Manch einer sieht den Entwurf als Chance zur Mitbestimmung, von anderer Stelle heißt es, Heil schiebe die Arbeit teilweise auf die Gewerkschaften ab.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hatte die Feststellung des Bundesarbeitsgerichts zur Erfassung der Arbeitszeiten bereits im vergangenen September als lange überfällig bezeichnet. Jetzt kritisiert Vorstandsmitglied Anja Piel aber gegenüber Capital die konkrete Umsetzung. „Wir lehnen es ab, das Arbeitszeitgesetz anzurühren. Wir brauchen ein Update, um der Entgrenzung von Arbeit entgegenzuwirken – am besten, indem die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung im Arbeitsschutzgesetz geregelt wird.“