Seit einiger Zeit wird heftig darüber gestritten, dass Medien künstlich Debatten aufbauschen, skandalisieren und „hochjazzen“, unter eifriger Schützenhilfe von Politikern, die mit immer neuen Zitaten für künstlichen Empörungsnachschub sorgen. Das Merkwürdige dabei ist, dass wir diese Debatte führen, viele sich einsichtig geben, Besserung geloben, während das Spiel parallel munter weiter betrieben wird. Nach dem Motto: Wir stellen Scheinwerfer auf und beschweren uns gleichzeitig, dass es zu hell ist.
Die neue Hartz-IV-„Debatte“ (man muss das in Anführungszeichen setzen, denn es handelt sich um keine ernsthafte Debatte) um Jens Spahn folgt genau diesem Mechanismus und unproduktiven Muster: Ein Zitatfetzen („Hartz IV bedeutet nicht Armut“) wird aus einem Interview und seinem Kontext gerissen und beginnt daraufhin ein aufgeregtes Eigenleben.
Man muss vorwegschicken, dass man Hartz-IV-Debatten nicht gewinnen kann, was wir seit Thilo Sarrazin („kaltes Duschen und warme Pullover“ ) oder Guido Westerwelle („spätrömische Dekadenz“) wissen. Der kalkulierte Tabubruch, die marktschreierische Zuspitzung, fehlt aber bei Spahn. Er hat nur festgestellt, das Hartz IV eine Antwort eines Staates auf Armut ist, nicht die Erzeugung derselben. (Das komplette Interview mit Spahn lesen Sie hier .)
Es stimmt ja: Niemand, der auf Dauer von Hartz IV lebt, wird sich wohlhabend oder glücklich fühlen. Hartz IV soll aber auch nicht für Wohlstand sorgen. Es ist kein Polster, sondern das Auffangnetz eines Sozialstaates, der übrigens seit Jahren mit immer neuen Milliarden an Steuergeldern und Beiträgen aufgebläht wird (seit 2010 um 25 Prozent). Und drei Dinge sollten dabei nicht vergessen werden:
- Die Kosten für Hartz IV und die Anzahl der Bezieher sinken seit Jahren– dank der guten Konjunktur, auf die man sich lieber konzentrieren sollte (gute Übersicht hier.)
- Eine vierköpfige Familie erhält rund 1950 Euro pro Monat – es wird viele Familien geben, die arbeiten und kaum mehr netto haben.
- Der Regelsatz ist seit 2010 um 16 Prozent gestiegen, das ist mehr, als viele Menschen an Lohnsteigerungen erfahren haben.
Sozialdebatten sind seit vielen Jahren schwer zu führen – weil sofort eine Armee von Kahlschlagssoldaten aufmarschiert, die „soziale Kälte“ und den angeblichen „Sozialabbau“ beklagen. Man ist schnell bei Klischees, selten bei den Fakten, meist wird dem Hartz-Kritiker geraten, doch ein paar Monate von Hartz zu leben, was dazu führt, dass die meisten Politiker brav zurückrudern.
Sicher, die Einführung von Hartz IV war eine Reform, die den Sozialstaat auf ein präzises, oft hart bemessenes Maß an Grundsicherung zurückführte. Aber das ist 14 Jahre her. Seitdem hat es in Deutschland keinen Abbau an Sozialleistungen mehr gegeben – im Gegenteil. Und wenn die Zahlen nun wieder steigen sollten – das gilt im Übrigen auch für alle Daten von Kinderarmut und Ungleichheit, die in den kommenden Monaten für Geschrei sorgen werden – dann sei hier prophylaktisch schon darauf hingewiesen: Wir haben über eine Million arme und mittellose Menschen ins Land gelassen. Dass die Armut zunimmt, ist der normale statistische Effekt, sobald sie voll erfasst werden.
Ich hoffe, dass das Hartz IV-Geschrei schnell abebbt, prophezeie aber, dass es bald die nächste, wieder völlig unproduktive „Debatte“ geben wird.